Année politique Suisse 1966 : Infrastruktur und Lebensraum / Energie
Energiepolitik
Auf dem Weg zur verschiedentlich geforderten Ausarbeitung einer nationalen Energiepolitik wurde am Ende des Jahres eine neue Etappe erreicht, als der Bundesrat einen Bericht über den Ausbau der schweizerischen Elektrizitätsversorgung
[1] veröffentlichte. Dieser Bericht stützte sich auf einen Expertenbericht, der von einer 1964 eingesetzten Kommission für den Ausbau der schweizerischen Elektrizitätsversorgung unter dem Vorsitz von Ständerat Choisy erstattet worden war
[2]; der Expertenbericht beruhte seinerseits auf einer Stellungnahme der zehn grössten Elektrizitätsproduzenten aus dem Jahre 1965
[3]. Gerade in der Frage der Notwendigkeit konventioneller thermischer Kraftwerke unterscheiden sich aber die drei Berichte voneinander. Die zehn Elektrizitätsproduzenten hielten noch konventionelle Thermokraftwerke mit einer Totalleistung von 900 Megawatt, d. h. dem Dreifachen der für 1967 vorgesehenen Leistung der Zentrale von Chavalon bei Vouvry (VS), für erforderlich, der Bericht der Kommission Choisy nahm angesichts der raschen Entwicklung der Atomkraftwerktechnik von der Festlegung einer bestimmten Leistung Abstand, und der Bericht des Bundesrates erklärte den Bau weiterer konventioneller Thermokraftwerke vollends für unwahrscheinlich. Der Bundesrat hatte schon 1964 auf einen direkten Übergang von der Wasserkraft zur Atomkraft unter Überspringung der konventionellen thermischen Krafterzeugung hintendiert
[4]. Nach einem Kommentar in der NZZ bestand am Ende des Jahres 1966 « absolute Übereinstimmung der Bundesbehörden wie der Elektrizitätswerke » darüber, dass — abgesehen von der Inbetriebnahme des Werks von Chavalon — der « direkte Sprung in die Atomenergie » den schweizerischen Bedürfnissen am besten entspreche
[5].
Diese veränderte Haltung der Elektrizitätswirtschaft äusserte sich einerseits in der Lancierung neuer Atomkraftwerkprojekte. Zu den Ende 1965 in Angriff genommenen oder bekanntgewordenen drei Projekten Beznau (NOK), Mühleberg (BKW) und Leibstadt (Elektro-Watt in Verbindung mit den Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerken) traten zwei weitere: Kaiseraugst (Motor Columbus und eventuell ATEL mit Electricité de France) und Verbois (Services industriels der Stadt Genf); ausserdem wurden Standorte im st. gallischen Rheintal und am Neuenburgersee erwogen
[6]. Es fehlte allerdings nicht an Hinweisen darauf, dass eine rationelle Ausnützung der neuen Anlagen Zusammenschlüsse der Stromproduzenten zu Partnerschaften erfordere und dass die angespannte Lage auf dem Kapitalmarkt eine zeitliche Staffelung der Ausführung nahelege
[7]. Das Postulat einer gestaffelten Ausführung steht auch mit der Tatsache im Zusammenhang, dass die jährliche Zunahme des Elektrizitätsbedarfs in den letzten Jahren merklich zurückgegangen ist
[8].
Anderseits kam die neue Einschätzung der Lage in Verzichten auf die Ausführung von grösseren Thermokraftwerkprojekten zum Ausdruck
[9]. Weiter gefördert wurden neben dem Vollausbau der Zentrale von Chavalon nur kleinere Anlagen: in der Zihlebene begann die Electricité Neuchâteloise (ENSA) mit dem Bau eines Werks von weniger als 30 Megawatt Leistung und bei Mendrisio plant die Azienda Elettrica Ticinese (AET) eine Zentrale in der gleichen Grössenordnung
[10]. Auch diese kleinen Projekte wurden jedoch Gegenstand einer heftigen Opposition aus der ansässigen Bevölkerung, wie sie im Vorjahr vor allem im st. gallischen Rheintal aufgetreten war
[11]. Die Bewegung im Mendrisiotto veranlasste die AET, dem Staatsrat dié Einholung eines eidgenössischen Gutachtens zu empfehlen; auf Antrag der Tessiner Regierung wurde darauf von den Bundesbehörden eine Expertenkommission eingesetzt
[12]. Die Opposition gegen das Werk an der Zihl verband sich mit der Bewegung gegen den Raffineriebetrieb in Cressier (NE)
[13].
[1] BBI, 1966, II, S. 932 ff.
[2] BBI, 1966, II, S. 950 ff.
[3] Vgl. SPJ 1965, in SJPW, 6/1966, S. 169 f.
[4] Vgl. SPJ 1965, in SJPW, 6/1966, S. 169, Anm. 5.
[6] NZZ, 1271, 23.3.66; 3251, 29.7.66; TdG, 105, 6.5.66; 230, 3.10.66.
[7] BBl, 1966, II, S. 944 u. 958; GdL, 245, 20.10.66; NZZ, 3944, 19.9.66; NZ, 554, 29.11.66. Eine Zusammenarbeit wurde auch von grossstädtischen Konsumzentren angestrebt, um die Versorgung mit Atomenergie sicherzustellen, und zwar einerseits zwischen dem Kanton Baselstadt und den Städten Zürich und Bern (NZ, 141, 26.3.66; 524, 11.11.66), anderseits zwischen Lausanne und Genf (TdG, 230, 3.10.66).
[8] Prozentuale Zunahme des Stromverbrauchs pro Jahr: 1956-1961 durchschnittlich 5,7%, 1961/62 5,3, 1962/63 6,2, 1963/64 4,2, 1964/65 4,8, 1965/66 2,4% (BBl, 1966, II, S. 935). Während der Bericht des Bundesrates diesen Rückgang als vorübergehend interpretiert, brachte der Präsident des Schweizerischen Elektrotechnischen Vereins, E. Binkert, ihn mit der Konjunkturdämpfung in Zusammenhang (NZZ, 3944, 19.9.66).
[9] Am 18.6. gaben die BKW den mindestens vorläufigen Verzicht auf ein Thermokraftwerk im Seeland bekannt (Bund, 234, 20.6.66), im Juli erfolgte eine entsprechende Bekanntgabe durch das Studiensyndikat Suissetherme, an welchem die BKW, die NOK, die Elektrizitätsgesellschaft Laufenburg und Elektro-Watt beteiligt sind, für das Projekt Sisseln (AG) (NZZ, 3165, 21.7.66), und kurz darauf reichten die NOK bei den Bundesbehörden ein Gesuch um die Standortbewilligung für ein Atomkraftwerk in Rüthi (SG) ein, wodurch eine Verminderung des Interesses am heissumstrittenen Thermokraftwerkprojekt Rüthi dokumentiert wurde (NZ, 347, 30.7.66).
[10] Zihlebene: NZZ, 790, 23.2.66; TdG, 210, 8.9.66. Mendrisio: NZZ, 1617, 14.4.66; Vat., 271, 22.11.66.
[11] Vgl. SPJ 1965, in SJPW, 6/1966, S. 172 f.
[12] NZZ, 1617, 14.4.66; NZ, 333, 22.7.66; CdT, 2, 3.1.67. Die Opposition vereinigte Landwirtschaft, Arzteschaft, Handels- und Gewerbekreise sowie Gemeindebehörden.
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