Année politique Suisse 1966 : Infrastruktur und Lebensraum / Energie / Erdöl und Erdgas
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Erdöl
Wenn in der Frage der Reaktorentwicklung mangelnde Einigkeit und Risikofreudigkeit der Privatwirtschaft den Bund zum Hinausschieben eines fördernden Entscheides veranlassten, so wurde auf dem Gebiet der Ölraffinerien und -leitungen umgekehrt durch den Bund die privatwirtschaftliche Initiative für einen Ausbau gebremst. Bei der Beantwortung von Interpellationen mehrerer Nationalräte über Probleme der Erdölversorgung am 30. Juni wiederholte Bundesrat Gnägi im wesentlichen die von seinem Vorgänger Spühler am 13. Dezember 1965 bekanntgegebenen Direktiven, nach denen die verschiedenen Rohrleitungen zusammen zur Vermeidung einer einseitigen Abhängigkeit in der Landesversorgung nicht mehr als 70 % der benötigten Erdölprodukte ins Land bringen dürfen [35], ungeachtet der in der Presse vermerkten Tatsache, dass ausgerechnet von seiten des Delegierten für wirtschaftliche Kriegsvorsorge, F. Halm, die kostenverteuernde Beschränkung der Rohrleitungsimporte als kriegswirtschaftlich irrelevant bezeichnet worden war [36]. Man konnte höchstens eine leicht veränderte Tonart feststellen, indem Bundesrat Gnägi nicht die Unzulässigkeit, sondern die Unwahrscheinlichkeit betonte, dass nach der Errichtung der beiden westschweizerischen Raffinerien Collombey (VS) und Cressier (NE) in den kommenden Jahren gleich beide noch vorliegenden Raffinerieprojekte (Mittelland-Raffinerie in Schötz/LU und Raffinerie Rheintal) verwirklicht würden, wobei er immerhin für 1975 einen so weit angewachsenen Erdölverbrauch annahm, dass die Produktion aller vier Werke im Rahmen der 70 % Platz hätte.
Die hauptsächlich an einer Mittelland-Raffinerie interessierten Ölfirmen, voran Esso und BP, konnten am 1. Juni als einstweiligen Ersatz die Anlagen von Collombey übernehmen, nachdem sich das Schicksal der ersten schweizerischen Raffinerieunternehmung erfüllt hatte. Das namentlich von westschweizerischen Interessenten gebildete Konsortium, das die bei der Finanzgesellschaft Italo-Suisse liegende Aktienmehrheit der Raffineries du Rhône S.A. zu übernehmen versuchte, wurde infolge mangelnder Geschlossenheit und Entschiedenheit von Esso überspielt; nachdem diese ihr Kaufangebot etwas gesteigert hatte, veranlasste die Italo-Suisse am 20. Mai die Liquidation der Raffinerie-Gesellschaft, wobei den Kleinaktionären von einem anonymen Gremium eine Entschädigung der Aktien zum Nominalwert offeriert wurde [37]. Die neuen Besitzer erfüllten ihre Zusagen hinsichtlich Vollausnützung der Raffineriekapazität [38]; gewisse Spannungen erzeugte Ende November die Ankündigung von Entlassungen zur Rationalisierung des Betriebes [39]. Um die Auswirkungen der Übernahme der Raffinerie durch die einen grossen Teil des schweizerischen Markts für flüssige Treib- und Brennstoffe beherrschende Esso-BP-Gruppe zu überprüfen, beauftragte das EVD die Kartellkommission mit einer Sonderuntersuchung, nachdem die Kommission mit ihrer 1965 begonnenen Vorstudie nur zu vorläufigen Ergebnissen gekommen war [40].
Die Übernahme der Raffinerie von Collombey wurde von Esso als ein Hauptgrund dafür angegeben, dass die Mittelland-Raffinerie AG gegen Ende des Jahres ihr Aktienkapital reduzierte und die Ausführung ihres Projekts auf unbestimmte Zeit verschob [41]. Als weiterer Grund wurde die grosse Zahl von Einsprachen gegen die geplante Rohrleitung genannt, durch welche diese zur krümmsten und teuersten Pipeline der Welt zu werden drohe. Mit dem einstweiligen Verzicht auf den Bau einer dritten Raffinerie bestätigte sich die von Bundesrat Gnägi geäusserte Ansicht, dass keine aktuelle Gefahr für eine Ausschaltung der traditionellen Zufuhrwege für Erdölprodukte bestehe [42].
Der Kampf um die energiewirtschaftlichen Anlagen an der Zihl nahm im Laufe des Jahres ähnliche Formen an wie der Kampf um entsprechende Projekte im st. gallischen Rheintal während des Vorjahres. Gegen den Raffineriebetrieb und eine weitere Industrialisierung erhob sich namentlich im bernischen Seeland eine Opposition, die für Erhaltung der natürlichen Lebensbedingungen, für die Sicherung des Bielersees als Trinkwasserreservoir der Stadt Biel sowie für die Interessen des Gemüse- und Rebbaus eintrat; mangelnde Information hatte zudem ein allgemeines Misstrauen gegenüber der Raffinerie und den Neuenburger Behörden entstehen lassen. Neuenburgische Naturschutzkreise und militante Antikapitalisten gesellten sich zu dieser Gegnerschaft, die zum Teil auch auf Steuerneid und Ölkonkurrenz zurückgeführt wurde [43]. Wie im Rheintal verband sich mit der Erregung der Bevölkerung, die in einer Protestkundgebung in Gals (BE) am 26. August gipfelte, die Intervention der Behörden, was zu einem hartnäckigen Streit zwischen den Kantonen Bern und Neuenburg führte [44]. Es wurde in der Presse geltend gemacht, dass eine rechtzeitige Zusammenarbeit der neuenburgischen mit den bernischen und freiburgischen Behörden im Sinne eines kooperativen Föderalismus diesen Streit hätte vermeiden lassen [45]. Die 1965 vom Bund und den Kantonen Bern und Neuenburg gebildete Eidgenössische Oberaufsichtskommission vermochte weder ein vorschriftswidriges Verhalten der Raffinerie noch die Zunahme der Spannung zwischen den beiden Kantonen zu verhindern. Nachdem das neuenburgische Industriedepartement mit Zustimmung der Oberaufsichtskommission am 11. Mai die provisorische Betriebsbewilligung erteilt hatte, beschwerte sich die bernische Regierung über einen ungenügenden Ausbau der Sicherheitsvorkehrungen und forderte am 21. Juni vom Chef des EDI, Bundesrat Tschudi, die Einstellung des Raffineriebetriebs. Der Bundesrat liess jedoch den zuständigen Chef des VED, Bundesrat Gnägi, am 30. Juni eine Interpellation Wenger (rad., BE) dahin beantworten, dass die Oberaufsichtskommission eine Betriebseinstellung nicht für erforderlich halte, dass aber die definitive Betriebsbewilligung von der Erfüllung sämtlicher Sicherheitsvorschriften abhängig gemacht werde. Die definitive Betriebsbewilligung wurde der Raffinerie vor Jahresende noch nicht erteilt.
Gleichfalls erst provisorisch wurde der Betrieb der mitteleuropäischen Rohrleitung aufgenommen, die durch das Gebiet der Kantone Graubünden und St. Gallen führt. Während es um das Projekt für eine Raffinerie im Rheintal wie um dasjenige für ein Thermokraftwerk still wurde, erhielten einstweilen die Emser Werke eine Anzapfbewilligung. Ölausflüsse auf deutschem Boden zögerten eine definitive Betriebsbewilligung hinaus [46]. Von Bedeutung für die Versorgung Genfs mit Erdölerzeugnissen ist das am 6. Juli an das Eidgenössische Amt für Energiewirtschaft gerichtete Gesuch für den Bau einer Produktenleitung, welche Genf mit den Raffinerien bei Marseille und Lyon verbinden soll [47].
 
[35] Interpellationen Tschopp (k.-chr., BL), Grandjean (rad., VD) und Leuenberger (soz., ZH) in NZZ, 1040, 10.3.66; Antwort von Bundesrat Gnägi in NZZ, 2879, 30.6.66. Vgl. zur Frage der Rohrleitungen und Raffinerien SPJ 1965, in SJPW, 6/1966, S. 175 ff.
[36] Ungezeichneter Aufsatz «Probleme der schweizerischen Erdölversorgung » in Mitteilungsblatt der Delegierten für Arbeitsbeschaffung und wirtschaftliche Kriegsvorsorge, 22/1966, S. 10 ff. Vgl. zu den Differenzen zwischen dem Delegierten für wirtschaftliche Kriegsvorsorge und dem Amt für Energiewirtschaft auch Jahresbericht über die Tätigkeit der Litra im Geschäftsjahr 1965/66, S. 103 f.
[37] TdG, 38, 15.2.66; 40, 17.2.66; NZZ, 572, 10.2.66; 1775, 22.4.66; 2268, 23.5.66; 5447, 15.12.66; Bund, 100, 12./13.3.66; Tat, 120, 22.5.66. Die Käufer übernahmen die von der liquidierten Gesellschaft veräusserten Anlagen unter der Firma « Raffinerie du Sud-Ouest » (TdL, 144, 24.5.66).
[38] NZZ, 3355, 8.8.66.
[39] TdG, 278, 28.11.66; 280, 30.11.66.
[40] NZZ, 2283, 24.5.66; 2879, 30.6.66.
[41] NZ, 572, 9.12.66.
[42] NZZ, 2880, 30.6.66.
[43] TdG, 94, 23./24.4.66; 195, 22.8.66; NZ, 197, 1.5.66; 393, 26.8.66; NZZ, 3510, 21.8.66; 3603, 28.8.66; Bund, 334, 29.8.66.
[44] Vgl. zum Folgenden: NZZ, 746, 21.2.66; 2253, 22.5.66; 2324, 26.5.66; 2880, 30.6.66; 3603, 28.8.66; 4547, 24.10.66; TdG, 60, 12./13.3.66; 111, 13.5.66; Bund, 248, 29.6.66; 319, 17.8.66.
[45] M. Walter in TdG, 96, 26.4.66. Vgl. auch G. Schürch in Bund, 139, 9./10.4.66.
[46] NZZ, 154, 13.1.66; 3774, 8.9.66; 5366, 10.12.66; Bund, 10, 8./9.1.66. Ein Hindernis für die definitive Betriebsbewilligung des Bundes bildete auch die dem Rohrleitungsgesetz widersprechende überwiegend ausländische Zusammensetzung des Kapitals der Betriebsgesellschaft (NZZ, 1799, 24.4.66).
[47] BBI, 1966, II, S. 24.