Année politique Suisse 1966 : Infrastruktur und Lebensraum / Verkehr und Kommunikation
 
Eisenbahn
Auch die Eisenbahnpolitik stand im Zeichen steigender finanzieller Bedürfnisse, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Verlagerung des Verkehrs von.der Schiene auf die Strasse [43]. Infolge der kritischen Lage der Bundesfinanzen geriet dabei die Bundeshilfe an die Privatbahnen ins Kreuzfeuer.
Auf Grund des Eisenbahngesetzes von 1957 hatte der Bund bereits zweimal Rahmenkredite von je 120 Mio Fr. für die Privatbahnhilfe gewährt. Das Eisenbahngesetz ermöglicht Bundeshilfe für technische Verbesserungen oder für Umstellung auf Strassentransportdienst, ferner Betriebsdefizitdeckung — dies alles bei Mitwirkung der Kantone — sowie Hilfe bei Naturschäden. Die beiden 1958 und 1963 gewährten Kredite waren erheblich früher aufgebraucht worden, als bei der Bewilligung angenommen worden war. So wurde zur Fortsetzung der Hilfe vom Bundesrat im Sommer eine neue Tranche von 150 Mio Fr. beantragt; die in der Botschaft erwähnte Frist (5 Jahre), für welche dieser Kredit ausreichen sollte, war im Text des Bundesbeschlusses — wie schon in den früheren Beschlüssen — nicht enthalten. Der Bundesrat stellte jedoch in Aussicht, dass der dringlichste technische Nachholbedarf in Bälde einigermassen gedeckt sein werde, so dass der Bund nachher hauptsächlich noch für Betriebshilfe werde aufkommen müssen; durch Rationalisierungsmassnahmen und Tarifgestaltung sei aber auch in dieser Hinsicht ein finanzielles Gleichgewicht der Bahnunternehmungen anzustreben [44]. Gegen die Vorlage erhob sich in freisinnigen Blättern entschiedene Kritik: die herrschende Subventionspraxis bewirke entgegen der gesetzlichen Bedingung eine Beeinträchtigung statt einer Förderung der Wirtschaftlichkeit der Privatbahnbetriebe, sie verhindere auch die Umstellung unrationeller Bahnen auf Strassentransportdienst und lasse keinen Abbau der Staatshilfe erwarten; als Voraussetzungen für die Bewilligung des neuen Kredits wurden ein zeitlicher Rahmen und ein Programm für den Abschluss der Hilfsaktion verlangt [45]. In die gleiche Kerbe hieb der Anfang September veröffentlichte Bericht der Kommission Stocker über die Bundessubventionen, der zudem die im Eisenbahngesetz verankerten Grundsätze der Abgeltung gemeinwirtschaftlicher Leistungen (durch Entschädigung eines Drittels der gesetzlich vorgeschriebenen Abschreibungen) sowie der Tarifannäherung (Vergütung des Einnahmenausfalls infolge der Reduktion der Tarife in Annäherung an diejenigen der SBB) anfocht [46]. Wenn bereits die Vorlage des Bundesrates, die den vom VED beantragten Kredit um 50 Mio Fr. reduziert hatte, von gewerkschaftlicher Seite als zu sparsam bezeichnet worden war [47], so wandte sich die Kritik der betroffenen Unternehmungen, ihres Personals und weiterer Kreise erst recht gegen die Vorschläge der Kommission Stocker sowie gegen den Bundesrat, der diese in globo akzeptiert hatte [48]. Verschiedentlich wurde dabei die Ausarbeitung einer umfassenden Verkehrskonzeption gefordert, in der wohl namentlich die Fragen der öffentlichen Aufwendungen für Schiene und Strasse sowie der Behandlung der einzelnen Landesgegenden zu klären wären. Der Bundesrat liess sich freilich durch den Bericht Stocker nicht davon abhalten, seine Privatbahnvorlage im Parlament zu vertreten; ja vor dem Ständerat, der die Vorlage im Dezember unverändert genehmigte, erklärte der Chef des VED — im Widerspruch zu jenem Bericht —, dass die Abgeltung der gemeinwirtschaftlichen Leistungen nicht aufgehoben und dass im Bedarfsfall ein weiterer Rahmenkredit angefordert werden solle [49]. Für die Prüfung der Umstellung von Eisenbahnen auf Strassentransport wurde eine Expertenkommission bestellt [50]. Die Frage der Vorortbahnen,.die, soweit sie bloss Personen befördern, nach Auffassung des Bundesrates nicht unter das Eisenbahngesetz fallen, deren Subventionierung aber vom Verband Schweizerischer Transportunternehmungen wie auch von städtischen Behörden gefordert wird, befindet sich in Prüfung; der Bundesrat betonte aber, dass eine Unterstützung dieser Bahnen nur in einem sehr begrenzten Umfang in Frage käme [51].
Die Frage des Verkaufs der BLS (Berner Alpenbahn-Gesellschaft Bern-Lötschberg-Simplon) an den Bund wurde von seiten Berns und der betroffenen Unternehmungen auf Grund der Offerte des Bundesrates vom 13. Dezember 1965 in positivem Sinne entschieden. Auf Antrag der Regierung empfahl der bernische Grosse Rat im Februar die Initiative, die Veräusserungen von grösseren Eisenbahnbeteiligungsrechten dem obligatorischen Referendum unterstellen wollte, ohne Gegenvorschlag zur Verwerfung und ermächtigte die Staatsvertreter in den Verwaltungsräten der Eisenbahngesellschaften, dem Verkauf zuzustimmen. Den Initianten wurde die Konzession gemacht, dass bei Annahme des Volksbegehrens die Referendumspflicht auch für die BLS-Frage anerkannt werden sollte. Ausserdem wurde eine Motion Blaser (BGB) angenommen, die den Regierungsrat beauftragte, bei der im Gange befindlichen Vorbereitung einer Einführung des fakultativen Referendums das Begehren der Initianten zu berücksichtigen. In dieser Lage wurde die Initiative zurückgezogen, da ein negativer wie ein positiver Volksentscheid bereits erzielte Erfolge (Motion Blaser oder günstige Offerte des Bundesrates) gefährdet hätte [52]. Um die zur Genehmigung des Verkaufs erforderliche Zweidrittelmehrheit an der Generalversammlung der BLS zu sichern, erwarb die Berner Kantonalbank das im Besitz der französischen Staatsbahn befindliche Aktienpaket, und zwar anscheinend über dem Nominalwert. Eine Aktionärsminderheit kündigte gegen den am 12. September gefassten Genehmigungsbeschluss eine gerichtliche Klage an [53].
Der Bundesrat liess den Übernahmevertrag bereits am 2. September unter Ratifizierungsvorbehalt unterzeichnen [54]. Die zu erwartende Opposition meldete sich namentlich in einer Interpellation von Nationalrat Bürgi (rad., SG), der auf die dem Bund aus der Übernahme erwachsenden Belastungen, auf die Frage der Gleichberechtigung anderer Privatbahnkantone sowie auf die Sparvorschläge der Kommission Stocker hinwies und die Darlegung einer eisenbahnpolitischen Gesamtkonzeption wünschte [55]. Auf eine Anfrage der Bündner Regierung, die durch eine einschränkende Erklärung des Direktors des Eidg. Amtes für Verkehr beunruhigt war, bestätigte Bundesrat Gnägi seine Bereitschaft zur Fortsetzung der Verhandlungen über eine Übernahme der Rhätischen Bahn [56]. Im Kanton St. Gallen endlich wurde der Wunsch nach Abtretung der Bodensee-Toggenburg-Bahn laut [57]. in beiden ostschweizerischen Kantonen gab der BLS-Entscheid des Bundesrates auch Anlass zu neuem Drängen in der Ostalpenbahnfrage, wobei das Splügenprojekt dank der Bildung von Unterstützungskomitees in Deutschland und Italien in den Vordergrund trat [58].
Eine weitere Anspannung der finanziellen Situation ergab sich auch bei den SBB, deren Rechnung für 1965 gerade ausgeglichen war, wenn sowohl auf eine Verzinsung des Dotationskapitals wie auf eine Einlage in die gesetzliche Reserve gänzlich verzichtet wurde. Erstmals seit Jahren war ein Rückgang in der Zahl der beförderten Personen zu verzeichnen; dieser wurde auf die Zunahme der privaten Motorisierung und des Luftreiseverkehrs zurückgeführt. Der Bundesrat stellte für die nächste Zukunft eine weitere Verschlechterung der Gesamtrechnung in Aussicht, wozu auch die vorgesehene Arbeitszeitverkürzung beitragen werde [59]. Es wurden deshalb erste kleinere Tariferhöhungen, namentlich bei den Streckenabonnementen, ausgearbeitet, was in Arbeitnehmerkreisen ablehnende Reaktionen auslöste [60]. Dank diesen Erhöhungen konnte für 1967 wieder ein kleiner Ertragsüberschuss von 2,7 Mio Fr. budgetiert werden, allerdings unter fortgesetztem Verzicht auf Dotationskapitalverzinsung und Reserveeinlage, so dass das Thema Tarifreform hängig bleibt [61]. Die Rechnung für 1965 wie das Budget für 1967 wurden vom Parlament oppositionslos genehmigt [62].
 
[43] Schweizerische Verkehrsstatistik, 1965, hrsg. v. Eidg. Amt für Verkehr, Bern 1966, S. 11.
[44] BBI, 1966, II, S. 169 ff.
[45] Bund, 339, 31.8.66; 341, 1.9.66; NZZ, 4034, 24.9.66.
[46] Allgemeine Überprüfung der Bundessubventionen. Bericht der vom Bundesrat eingesetzten Expertengruppe, Bern 1966, S. 37 ff. Der Bericht beantragte namentlich Aufhebung der Abgeltung gemeinwirtschaftlicher Leistungen, Beschränkung der Tarifannäherung auf den Einheimischen- und Güterverkehr sowie stärkere Heranziehung der finanzkräftigen Kantone zur Defizitdeckung. Vgl. auch oben S. 58 f.
[47] Der Eisenbahner, 34, 26.8.66; Bund, 335, 29.8.66; 345, 5.9.66.
[48] Verband Schweizerischer Transportunternehmungen des öffentlichen Verkehrs (NZ, 510, 3.11.66), Schweizerischer Eisenbahnerverband (NZZ, 4893, 14.11.66), Föderativverband des Personals öffentlicher Verwaltungen und Betriebe (NZZ, 5106, 25.11.66), Studiengruppe für Verkehr und Tourismus der Konservativ-christlichsozialen Volkspartei (NZZ, 4714, 3.11.66). Vgl. auch W. Kesselring (Direktor der Bodensee-Toggenburg-Bahn) in NZZ, 4574, 26.10.66, R. Bratschi in Tw, 233, 4.10.66, und Jahresbericht der Litra, 1965/66,S. 81 ff. Vgl. auch oben S. 59.
[49] NZZ, 5528 u. 5529, 20.12.66.
[50] NZZ, 4861, 11.11.66.
[51] BBl, 1966, II, S. 180 f.; NZZ, 5529, 20.12.66. lm Wahlkampf um das Berner Stadtpräsidium erklärten sich beide Kandidaten für eine Bundeshilfe an die Vorortsbahnen (Tw, 233, 4.10.66; Bund, 400, 13.10.66); vgl. oben S. 23.
[52] Bund, 47, 3.2.66; 59, 11.2.66; 63, 15.2.66; NBZ, 21, 26.1.66; Tw, 38, 15.2.66. Vgl. auch SPJ 1965, in SJPW, 6/1966, S. 182 f.
[53] NZZ, 3612, 29.8.66; 3844, 13.9.66; 3878, 15.9.66; Bund, 341, 1.9.66; 343, 3./4.9.66; 356, 13.9.66. Auch die Generalversammlungen der Nebenlinien erteilten die Genehmigung (Bund, 376, 27.9.66; 382, 1./2.10.66; NZZ, 4114, 29.9.66). Über die Einreichung der Klage vgl. Bund, 86, 2.3.67.
[54] NZZ, 3679, 2.9.66.
[55] NZZ, 3999, 22.9.66.
[56] NZZ, 4446, 18.10.66; 4714, 3.11.66; Erklärung Direktor Martins an der Generalversammlung der BLS in NZZ, 3844, 13.9.66.
[57] Vgl. Begehren der Staatswirtschaftlichen Kommission des Grossen Rates an den Regierungsrat um Orientierung (NZZ, 4257, 7.10.66).
[58] Vgl. Erklärung des st. gallischen Finanzdirektors im Grossen Rat (NZZ, 4579, 26.10.66) und Behandlung eines Postulats zugunsten des Splügenprojekts im Grossen Rat von Graubünden (NZZ, 5269, 5.12.66), ferner Jahresbericht der Litra, 1965/66, S. 59 f.
[59] BBI, 1966, I, S. 769 ff.; vgl. auch Bund, 434, 7.11.66; Jahresbericht der Litra, 1965/66, S. 10 ff. Zur Arbeitszeitfrage vgl. unten S. 108 ff.
[60] Schweizerische Arbeitgeber-Zeitung, 61/1966, S. 498 f. Kritik übten der Schweizerische Gewerkschaftsbund (NZZ, 3675, 2.9.66) und die Vereinigung schweizerischer Angestelltenverbände (NZZ, 3713, 5.9.66). Vgl. auch Bund, 438, 9.11.66.
[61] BBI, 1966, Il, S. 669 ff.
[62] Rechnung 1965: NZZ, 2512, 7.6.66 (StR); 2879, 30.6.66 (NR). Budget 1967: NZZ, 5320, 7.12.66 (StR); 5358, 9.12.66 (NR).