Année politique Suisse 1966 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
Alters- und Hinterlassenenversicherung
Um einen neuen Ausbau der ausgesprochen populären Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV)
[1] — und in ihrem Gefolge auch der Invalidenversicherung (IV) — erhob sich ein wahrer Wettlauf unter den verschiedenen politischen Gruppen. Der Christlichnationale Gewerkschaftsbund lancierte im Januar eine Initiative zur Revision von Art. 34 quater BV, die einerseits die jährliche Anpassung der AHV- und IV-Renten an die Teuerung sowie an die Entwicklung des Volkseinkommens postulierte und als Ausgangspunkt gleich eine Erhöhung der Renten um einen Drittel vorsah, anderseits die Arbeitgeber zur Einrichtung paritätischer Zusatzversicherungen mit Freizügigkeitsgarantie verpflichten wollte; das Begehren wurde im August mit 169 399 Unterschriften eingereicht
[2]. Wenn dieser Vorstoss mit seiner Forderung nach einer Indexrente, ja nach einer sogenannten dynamischen Rente
[3], sowie mit seiner Annäherung an das System der Volkspension nach nordischem Muster den Akzent auf eine Strukturreform legte, so konzentrierte sich der Schweizerische Gewerkschaftsbund im Februar mit einem Schreiben an den Bundesrat auf den unmittelbaren Teuerungsausgleich unter Zurückstellung aller übrigen Gesichtspunkte
[4]; die Sozialdemokratische Partei der Schweiz sekundierte und präzisierte kurz darauf dieses Postulat in einer eigenen Eingabe, in der sie eine 10prozentige Rentenerhöhung auf Anfang 1967 vorschlug
[5]. Rentenindexierung und Volkspensionsprinzip stiessen in der Partei wie im Gewerkschaftsbund auf Kritik; dabei wurde geltend gemacht, dass ein starres Indexsystem Realwerterhöhungen erschweren könne und eine Volkspension ein Vielfaches an Beiträgen erfordern würde
[6]. Beide Organisationen unterbreiteten aber dem Bundesrat am Jahresende auch einen Vorschlag für eine weitergreifende Revision, den sie von einer gemeinsamen Kommission hatten ausarbeiten lassen; dieser ging einerseits auf eine Erhöhung der AHV-Renten um rund 40 % und auf eine Reduktion der gesetzlichen Überprüfungsfrist für die Rentenanpassung von fünf auf drei Jahre aus, anderseits auf eine Heraufsetzung der Beiträge der Versicherten wie der Arbeitgeber um 25 % und auf eine mindestens im gleichen Verhältnis stehende Erhöhung der staatlichen Zuwendungen
[7]. In ähnlicher Richtung bewegten sich die Postulate der Vereinigung schweizerischer Angestelltenverbände; diese wünschte den Teuerungsausgleich bei den Renten sogar schon für 1966, behielt sich aber die Prüfung weitergehender Verbesserungen noch vor
[8]. Dagegen verlangte ein Komitee « Gesichertes Alter », dem Exponenten verschiedener Parteien und Arbeitnehmerverbände angehören, neben einer 13. Monatsrente für 1966 einen automatischen Teuerungsausgleich bei AHV-Renten und -Ergänzungsleistungen für die Zukunft
[9]. Für eine Weiterentwicklung der AHV sprach sich schliesslich der schweizerische freisinnig-demokratische Parteitag aus; in seinen Thesen wurde ausser einer 10prozentigen Rentenerhöhung auf Anfang 1967 und einer Verkürzung der Überprüfungsfrist auf drei Jahre insbesondere die Förderung des Baues von Alters- und Invalidenwohnungen durch niedrig verzinsliche Darlehen aus dem Ausgleichsfonds der AHV postuliert
[10]. Der Zentralverband der Arbeitgeberorganisationen und die Schweizerische Handelskammer lehnten dagegen jede Rentenerhöhung, die über den Rahmen der bereits verfügbaren Mittel hinausginge, ab
[11].
Der Bundesrat begegnete dem Ansturm der Revisionspostulate, der auch in parlamentarischen Vorstössen seinen Niederschlag fand
[12], durch den Antrag auf eine 10prozentige Rentenerhöhung ab Januar 1967 sowie durch die Einsetzung einer Expertenkommission für volkswirtschaftliche Fragen der Sozialversicherung, die sich im Hinblick auf eine umfänglichere Revision vorerst mit der Problematik der Indexrenten befassen sollte. Die Rentenerhöhung wurde als Teuerungsausgleich gegenüber dem Stand beim Inkrafttreten der Revision von 1964 interpretiert und durch die infolge der Konjunkturentwicklung zu erwartenden Mehreinnahmen bis 1984 als gedeckt erklärt
[13]. Beide Räte stimmten der Vorlage in der Septembersession zu, der Nationalrat unter Ablehnung weitergehender Forderungen
[14].
[1] In keiner der elf kantonalen Urnenabstimmungen über die Einführung von Ergänzungsleistungen zur AHV und IV erreichte der Anteil der Neinstimmen an der Zahl der gültigen Stimmen 15 %.
[2] BBI, 1966, II, S. 318 ff. Vgl. auch NZ, 46, 28.1.66; Vat., 122, 27.5.66.
[3] Von dynamischer Rente spricht man, wenn über den Teuerungsausgleich hinaus eine Anpassung an die Zunahme des Sozialprodukts gewährt wird (Vat., 16, 20.1.66).
[5] Tw, 50, 1.3.66. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund schloss sich in der Folge dieser Präzisierung an (NZZ, 1404, 31.3.66).
[6] G. Bernasconi am Kongress des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (Gewerkschaftliche Rundschau, 58/1966, S. 338 ff.) und R. Bratschi am Kongress der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (Tw, 251, 25.10.66).
[8] NZZ, 1495, 5.4.66. Für raschere Anpassung der Renten traten auch der Schweizerische Verband evangelischer Arbeiter und Angestellter (NZZ, 121, 11.1.66) und der Landesverband freier Schweizer Arbeiter (NZZ, 1508, 5.4.66) ein.
[9] NZZ, 1288, 24.3.66. In diesem Komitee sind der Christlichnationale Gewerkschaftsbund, die Vereinigung schweizerischer Angestelltenverbände, die Nationale Arbeitnehmer-Gemeinschaft und der Schweizerische Verband evangelischer Arbeiter und Angestellter vertreten. Für eine weitere Eingabe wurde im Herbst der Übergang zur dynamischen Rente sowie eine Art Volkspension für die ungenügend Versicherten vorgesehen (NZZ, 4088, 28.9.66; 5066, 23.11.66).
[10] Bund, 196, 23.5.66. Eine entsprechende Eingabe wurde an den Bundesrat gerichtet (NZZ, 2871, 30.6.66).
[11] NZZ, 1614, 14.4.66 (Zentralverband der Arbeitgeberorganisationen); 2386, 31.5.66 (Handelskammer). Prof. H. Herold, Sekretär des Vororts, empfahl in NZZ, 3339, 6.8.66, eine Beitragserhöhung, um eine 10prozentige Rentenerhöhung unabhängig von höheren Zuwendungen der öffentlichen Hand zu ermöglichen. Vgl. unten Anm. 76.
[12] Überweisung der Postulate Vontobel (LdU, ZH), Wyss (soz., BS) und Mossdorf (rad., ZH) über Indexrente bzw. Rentenanpassung sowie des Postulates Daflion (PdA, GE) über eine Volkspension (NZZ, 1284, 24.3.66) durch den NR. Eine parlamentarische Einzelinitiative Daftlon für Indexrenten wurde in der zweiten Jahreshälfte von beiden Räten zurückgewiesen (NZZ, 4114, 29.9.66; Sten. Bull. StR, 1966, S. 331 f.).
[13] BBI, 1966, I, S. 1033 ff. In den vorgesehenen Mehreinnahmen ist auch ein Zuwachs der Beiträge der öffentlichen Hand einkalkuliert, da diese Beiträge nach Gesetz proportional zu den Gesamtausgaben erhöht werden müssen. Über die Expertenkommission für volkswirtschaftliche Fragen der Sozialversicherung vgl. NZZ, 4579, 26.10.66.
[14] Sten. Bull. StR, 1966, S. 247 ff.; Sten Bull. NR, 1966, S. 564 ff. Sozialdemokratische Anträge betrafen rückwirkende Inkraftsetzung auf Juli 1966 sowie erhöhte Minimalzuschläge.
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