Année politique Suisse 1967 : Bildung, Kultur und Medien / Bildung und Forschung
 
Forschung
Während so im Bereich der Hochschulfragen eine Art offizielle Gesamtkonzeption zutage trat, die es auch ermöglichte, grössere Realisierungen in Angriff zu nehmen, war dies in der Forschungspolitik erst teilweise der Fall [36]. Zu vermehrten Anstrengungen sah man sich vor allem durch den wissenschaftlich-technischen Vorsprung aussereuropäischer Mächte, insbesondere der USA, veranlasst, der einerseits die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit der europäischen Länder gefährdet, anderseits immer mehr junge Akademiker zur Auswanderung verlockt [37]. Als Voraussetzung solcher Anstrengungen, die in ihrer Bedeutung mit den Leistungen für die Landesverteidigung verglichen wurden [38], erschien Zusammenarbeit erforderlich: zwischen dén Hochschulen und der Wirtschaft, zwischen Wirtschaft und Staat, zwischen den verschiedenen europäischen Staaten. Es wurde aber auch geltend gemacht, dass Forschung Freiheit und Wettbewerb benötige, und gegenüber einem stärkeren Engagement des Staates erhoben sich Bedenken, die sich sowohl auf die Belastung des Fiskus wie auf die Steigerung des staatlichen Einflusses bezogen [39]. Der Wissenschaftsrat betonte namentlich für die Grundlagenforschung in den sog. « big sciences » (Hochenergiephysik, Raumforschung), dass sich aus der Beschränktheit der Mittel eines kleinen Landes die Notwendigkeit einer Schwerpunktbildung, einer Konzentration auf einzelne, womöglich wirtschaftlich nutzbare Forschungszweige ergebe und dass eine Beteiligung an internationalen Gemeinschaftsunternehmungen nur dann sinnvoll sei, wenn auf dem betreffenden Gebiet im eigenen Lande entsprechende Leistungen erbracht würden [40].
Um die wissenschaftlichen und technischen Fortschritte ausserhalb Europas besser verfolgen zu können, beschloss der Bundesrat, wie bereits in Washington künftig auch in Moskau und Tokio einen Wissenschaftsattaché zu unterhalten [41].
Besondere Bemühungen galten der Zurückgewinnung schweizerischer Wissenschafter aus den USA [42]. Zur Förderung der europäischen Zusammenarbeit in der Grundlagenforschung ergriff der Bundesrat auf dem Gebiet der Molekularbiologie eine Initiative: er veranlasste die Vorbereitung einer ständigen Institution mehrerer Staaten [43]. Bedeutende Anstrengungen erfordert die Mitarbeit in der europäischen Hochenergieforschung. Schon der im Rahmen der ersten ETH-Vorlage 1965/66 bewilligte Bau eines Protonenbeschleunigers in Villigen (AG) war wesentlich durch die Beteiligung der Schweiz am europäischen Kernforschungszentrum CERN in Genf veranlasst worden; das Projekt eines neuen Grossbeschleunigers des CERN nötigte die Behörden, weitere beträchtliche Aufwendungen in Erwägung zu ziehen [44]. Im Rahmen der europäischen Raumforschungsarbeiten gelang die Erprobung einer von der Firma Contraves entwickelten Höhenforschungsrakete auf einer Basis in Sardinien; mit ihr waren Experimente von wissenschaftlichen Instituten in Bern und Genf verbunden [45].
Anlässlich des 15jährigen Jubiläums des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung betonte der Präsident des Forschungsrates, Prof. A. von Muralt, erneut das Prinzip der Freiheit der Grundlagenforschung und distanzierte sich von einer bewussten Planung von Schwerpunkten [46], eine Haltung, die nicht ohne Kritik blieb [47]. Eine stärkere Koordination und Konzentration der Kräfte wird für erforderlich gehalten, wenn der Staat auch die angewandte Forschung fördern soll. Dies gilt auf der einen Seite für die klinische Forschung in der Medizin, der ein vom Bund subventionierter Forschungsfonds für die Gesundheit zu dienen hätte: nach der Überweisung des Postulats Borel (rad., GE) durch den Ständerat im Dezember 1966 wurde die Errichtung einer solchen Institution nicht nur von der Kommission für Fragen der medizinischen Ausbildung, sondern auch vom Wissenschaftsrat befürwortet und dem Bundesrat in einer Eingabe der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften nahegelegt [48]. Bundesrat Tschudi bezeugte dem Begehren seine Sympathie, machte aber auf die Schwierigkeiten der Finanzierung aufmerksam [49]. Auf der andern Seite beschäftigten sich sowohl der Wissenschaftsrat wie industrielle Kreise mit dem von Ständerat Choisy (lib., GE) propagierten Projekt eines Nationalfonds für die angewandte Forschung [50]. Der Vorort führte in diesem Zusammenhang eine Enquête über den Stand der industriellen Forschung und Entwicklung durch, die eine erhebliche Zunahme des Forschungsaufwandes und zugleich des Bedarfs an Wissenschaftern und Technikern ergab [51]. Bundesrat Tschudi betonte einstweilen die primäre Verantwortung der Privatwirtschaft auf dem Gebiet der angewandten Forschung; er befürwortete ferner eine gewisse Rücksichtnahme auf diese Verantwortung durch die Steuerpolitik [52]. Eine Voraussetzung für die gesamte Forschung ist schliesslich ein Ausbau der Bibliotheken und Dokumentationsdienste, zu dessen Vorbereitung eine besondere. Expertenkommission eingesetzt wurde [53].
 
[36] Vgl. Schweizerischer Wissenschaftsrat, Jahresbericht 1967, S. 3. Verschiedene Stimmen verlangten die Konzipierung einer gesamtschweizerischen Forschungspolitik, so NR Duft (k.-chr., ZH) und NR Hofer (BGB, BE) in Interpellationen (NZZ, 4138, 3.10.67; Sten. Bull. NR, 1967, S. 567 ff.), ferner A.E. Schrafl und Prof. B. Fritsch, welche die Schaffung eines Eidg. Departements für Wissenschaft und Forschung wünschten (NZZ, 1411, 3.4.67; 2540, 10.6.67; 2550, 11.6.67). Botschafter Thalmann postulierte speziell eine Aussenwissenschaftspolitik (Wissenschaftspolitik gegenüber dem Ausland) (Bund, 58, 11./12.2.67). Bundesrat Tschudi kündigte gegen Jahresende einen Bericht über die gesamte Wissenschaftspolitik an (Sten.Bull.NR, 1967, S. 579).
[37] Vgl. dazu Prof. A.P. Speiser in NZZ, 78, 5.2.68, ferner GdL, 44-47, 22.-25./26.2.67; Lib., 300, 27.12.67.
[38] So von NR Reverdin und von Prof. J.J. Morf (GdL, 12, 16.1.67; 13, 17.1.67; 103, 5.5.67); vgl. auch oben, S. 44 f.
[39] Vgl. insbesondere Bund, 2, 3.1.67; 6, 5.1.67; 8, 7./8.1.67; NZZ, 247 u. 254, 20.1.67; 2540, 10.6.67, 3486, 24.8.67; 4657, 2.11.67, u. 4665, 3.11.67 (Prof. M. Imboden); 5520, 22.12.67. Für eine europäische Zusammenarbeit setzte sich namentlich NR Reverdin ein, der zum Präsidenten einer wissenschaftlich-technologischen Kommission des Europarates ernannt wurde (Europa, 1967/10, S. 14; JdG, 213, 13.9.67; 221, 22.9.67; NZ, 438, 22.9.67; NZZ, 4020, 27.9.67).
[40] Vgl. Schweizerischer Wissenschaftsrat, Jahresbericht 1967, S. 18 f., ferner Erklärungen Bundesrat Tschudis (NZZ, 1414, 3.4.67; 4138, 3.10.67).
[41] NZZ, 5358, 12.12.67. Vgl. auch Tat, 207, 2.9.67.
[42] Vgl. über Bemühungen der schweizerischen Botschaft in Washington NZZ, 4883, 15.11.67, über solche des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung NZZ, 4403, 19.10.67; ferner NZZ, 3746, 10.9.67; GdL, 198, 25.8.67; 200, 28.8.67.
[43] NZZ, 1437, 5.4.67; 5189, 2.12.67; GdL, 78, 5.4.67. Eine ständige « Europäische Konferenz über Molekularbiologie» wurde im Januar 1968 in Genf durch 12 europäische Staaten gegründet (NZZ, 66, 31.1.68).
[44] Der Bundesrat zog sogar vorübergehend einen Verzicht auf die Anlage in Villigen in Betracht. Im NR erklärte Reverdin (lib., GE), durch die Bewilligung des Beschleunigers von Villigen habe das Parlament, ohne es zu merken, der Hochenergieforschung eine fast absolute Priorität zuerkannt. Vgl. Debatte über eine Interpellation Hofer (BGB, BE) im NR am 11. und 12.12., insbesondere Voten Reverdins und Bundesrat Tschudis (Sten.Bull.NR, 1967, S. 574 ff.). Vgl. auch JdG, 259, 6.11.67; 260, 7.11.67; 264, 11./12.11.67.
[45] GdL, 79, 1./2.4.67; 174, 28.7.67; 202, 30.8.67; NZ, 308, 7.7.67; NZZ, 4579, 29.10.67; 5514,22.12.67; JdG, 262, 9.11.67; 284, 5.12.67. Die Schweiz ist mit 9 andern europäischen Staaten Mitglied der ESRO (European Space Research Organization). Zur internationalen Zusammenarbeit in der Reaktorforschung s. oben, S. 78 f.
[46] Schweizerischer Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, « 15 Jahre Nationalfonds », Mitteilungen, 4, Bern 1967, S. 8 ff.
[47] GdL, 195, 22.8.67; PS, 213, 15.9.67.
[48] S. oben, S. 121; ferner NZZ, 1973, 5.5.67; 2962, 8.7.67. Vgl. auch SPJ 1966, S. 120.
[49] Rede zum 100jährigen Jubiläum der Société médicale de la Suisse romande am 5.10. (JdG, 293, 6.10.67).
[50] NZZ, 1973, 5.5.67; GdL, 98, 28.4.67; Bericht über Handel und Industrie der Schweiz im Jahre 1966..., S. 157 ff. Vgl. auch ERIC CHOISY, «Pour une politique suisse de la recherche appliquée », in Europa, 1967/5, S. 16 ff.; ferner Einreichung einer Motion Choisy im StR (JdG, 286, 7.12.67).
[51] Schweizerischer Handels- und Industrieverein, Bericht des Vororts zu seiner Enquête über den Stand der industriellen Forschung und Entwicklung in der Schweiz, (Zürich 1967).
[52] Ausserungen im NR vom 3.10. (NZZ, 4138, 3.10.67) und 12.12. (Sten.Bull.NR, 1967, S. 580) sowie in einem Vortrag in Lausanne am 17.2. (NZ, 81, 19.2.67; NZZ, 988, 8.3.67). Vgl. auch oben, S. 78 f., über Reaktorförderung.
[53] Schweizerischer Wissenschaftsrat, Jahresbericht 1967, S. 27.