Année politique Suisse 1968 : Infrastruktur und Lebensraum / Verkehr und Kommunikation
 
Generelle Verkehrspolitik
Das Postulat einer Gesamtkonzeption ist im Jahre 1968 in den Mittelpunkt der schweizerischen Verkehrspolitik gerückt. Die zunehmende Verlagerung des Verkehrs von der Schiene auf die Strasse, die Überfüllung des Strassennetzes, namentlich in den städtischen Agglomerationen, die Schwierigkeiten bei der Finanzierung der Nationalstrassen, insbesondere ihres Unterhalts und Betriebs, die wachsenden Defizite der Bahnen und endlich auch das Drängen nach Binnenschiffahrt im Westen und im Osten des Landes werden immer allgemeiner als Aspekte einer grossen zusammenhängenden Problematik anerkannt, die nicht mehr durch Einzelmassnahmen bewältigt werden kann [1]. So wurde denn auch in den Richtlinien des Bundesrates die Erarbeitung einer Gesamtkonzeption für das Verkehrswesen unter die Prioritäten eingereiht. Mit Hinweisen auf den Inhalt einer solchen Konzeption war freilich der Bericht der Landesregierung noch sparsam; er ging kaum über die von Bundesrat Gnägi bereits 1967 geäusserten Gesichtspunkte hinaus [2]: freie Wahl des Verkehrsmittels durch den Benützer, möglichst gleiche Behandlung der verschiedenen Verkehrsträger durch den Staat, namentlich auch bei Investitionen, somit Korrektur der Verzerrungen des Wettbewerbs zwischen den einzelnen Verkehrsträgern durch möglichst volle Deckung der Kosten seitens der Verkehrsträger einerseits und durch Abbau oder soweit nötig Abgeltung gesamtwirtschaftlicher Lasten anderseits; im Strassenverkehr sollte die ungleiche Beanspruchung durch verschiedenartige Fahrzeuge berücksichtigt werden [3].
In seinen Erläuterungen zum Richtlinienbericht setzte Bundespräsident Spühler vor dem Nationalrat leicht verstärkte interventionistische Akzente. Er stellte die Verkehrspolitik in den Rahmen der Landesplanung und erklärte sich für eine gezielte Förderung derjenigen Verkehrsmittel, die gesamtwirtschaftlich betrachtet am zweckmässigsten seien; durch gesamtwirtschaftliche und sonstige lebenswichtige Gesichtspunkte sei das Prinzip der Gleichbehandlung der Verkehrsträger zu beschränken, so zum Beispiel beim Verkehr in den grossen Siedlungsagglomerationen [4]. Im Ständerat äusserte sich der Bundespräsident zustimmend zu einer Anregung des Luzerners Leu (k.-chr.), die Verkehrsangelegenheiten in der Bundesverwaltung in einem einzigen Departement zu konzentrieren [5]. Unter der Leitung des EVED, an dessen Spitze Bundesrat Bonvin am 1. Juli seinen Kollegen Gnägi ablöste, wurden noch im Frühsommer Studien für eine Gesamtverkehrskonzeption aufgenommen [6]. Inoffizielle Empfehlungen für die Ausgestaltung einer solchen Konzeption gab Ende Mai der Direktor des Eidg. Amtes für Verkehr, A. Martin, am Kongress des Schweizerischen Eisenbahnerverbandes. Er befürwortete namentlich eine kostendeckende Gebührenerhebung für die Benützung von Alpenstrassentunnels, die zugleich ein Überhandnehmen des Schwerverkehrs auf den Gebirgsstrassen verhindern sollte, wobei Tessiner und Umer Fahrzeuge ausgenommen werden könnten, und er empfahl gezielte Subventionen für den Ausbau des Bahnverkehrs in grossen Agglomerationen, um deren Strassen zu entlasten [7].
In der öffentlichen Diskussion traten sehr verschiedene Standpunkte einander gegenüber. Nicht nur sozialistische, sondern auch liberale Stimmen verwiesen auf das Beispiel des deutschen Leber-Plans, nach welchem der Güterverkehr durch gesetzliche Beschränkung und besondere Besteuerung der Strassenfemtransporte wieder vermehrt der Schiene zugeführt werden sollte [8]. Dagegen verteidigten die Repräsentanten des Strassentransportgewerbes die volle Wettbewerbsfreiheit und lehnten eine Erhöhung der Strassenverkehrsbesteuerung ab [9]. Als gemässigt liberale Lösung wurde eine Beschränkung der Staatsintervention auf den Ausgleich der Wettbewerbsbedingungen, namentlich durch öffentliche Aufwendungen, empfohlen [10].
 
[1] Vgl. u.a. C. KASPAR, Die Bedeutung einer schweizerischen Gesamtverkehrskonzeption (Wirtschaftspolitische Mitteilungen, 24/1968, Nr. 12).
[2] Vgl. SPI, 1967, S. 82. Der dort erwähnte Basler Vortrag Bundesrat Gnägis vom 28.11.1967 wurde veröffentlicht in Schweizerisches Archiv für Verkehrswissenschaft und Verkehrspolitik, 23/1968, S. 1 ff.
[3] BBI, 1968, I, S. 1230 f., 1247. Entsprechend äusserte sich Bundesrat Gnägi wenige Wochen vor der Übergabe des EVED an Bundesrat Bonvin vor der Gewerkschaft des christlichen Verkehrspersonals am 20.5.1968 (NZZ, 310, 21.5.68).
[4] Sten. Bull. NR, 1968, S. 238.
[5] Sten. Bull. StR, 1968, S. 179 (StR Leu) u. 183 (Bundespräsident Spühler).
[6] NZZ, 397, 1.7.68; 700, 12.11.68. Die neugebildete Delegation des Bundesrates für Verkehrsfragen trat Ende Juni mit Chefbeamten zu einer ersten Konferenz zusammen (Bund, 150, 30.6.68 ; Jahresbericht der Litra, 1967/68, S. 67 f.).
[7] NZ, 248, 1.6.68; NZZ, 333, 2.6.68.
[8] Vr, 218, 17.9.68; BN, 333, 12.8.68. Eine gesetzliche Verkehrsteilung befürworteten der Schweiz. Eisenbahnerverband (PS, 125, 4.6.68) und der liberale Dovere (229, 5.10.68). Vgl. auch Jahresbericht der Litra, 1967/68, S. 68 ff. Zur Problematik des Leber-Plans vgl. WALTER HAMM, « Grundsätzliche Aspekte des Leber-Plans », in Schweizerisches Archiv für Verkehrswissenschaft und Verkehrspolitik, 23/1968, S. 193 ff.
[9] NZZ, 329, 30.5.68 (Treuhandverband des Autotransportgewerbes); Lb, 237, 9.10.68 (Schweiz. Transportgewerbeverband); ähnlich der Schweiz. Strassenverkehrsverband (NZZ, 752, 4.12.68).
[10] NZZ, 349, 10.6.68; GdL, 267, 14.11.68.