Année politique Suisse 1969 : Grundlagen der Staatsordnung
Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein
Effort accru dans la solution des problèmes d'urgence — Discussions sur l'avenir — L'esprit de résistance de la génération de la seconde guerre mondiale suscite des critiques, entre autres lors de la publication du livre de la défense civile — Poursuite de la discussion sur la révision totale de la Constitution fédérale.
Grundfragen
Die Charakterisierung des schweizerischen politischen Lebens, die wir für 1968 gegeben haben
[1], trifft in vielen Punkten auch für das Jahr 1969 zu. Wenn somit die Elemente im wesentlichen dieselben geblieben sind, so haben sich dagegen die Gewichte merklich verlagert. Es fehlte auch 1969 nicht an Zwischenfällen und Gewaltakten, doch sie waren weniger spektakulär, eher mit kleinen, mehr zufälligen Scharmützeln vergleichbar als mit grösseren Schlachten. Dieses Abebben entsprach der Entwicklung in den beiden wichtigsten Nachbarstaaten, in der deutschen Bundesrepublik und in Frankreich, wo legale Volksentscheide zu Führungswechseln Anlass gaben, ohne dass gewaltsame Aktionen die Szene beherrschten. Die Spannung zwischen dem überkommenen Gefüge von Normen und Institutionen und der gewandelten gesellschaftlichen Wirklichkeit erzeugte noch keine grösseren Neugestaltungen, aber es wurde zielstrebiger an der Lösung dringlicher Probleme gearbeitet: an einer Reorganisation des Bildungswesens, an den Voraussetzungen für eine wirksame Landesplanung, an einer tiefergreifenden Reform der Altersversicherung, an der politischen Gleichberechtigung der Frau, an der Beseitigung des konfessionellen Ausnahmerechts, an der Verselbständigung des Juras und an der institutionellen Einordnung der Schweiz in die europäische wie in die internationale Völkergemeinschaft. In den Auseinandersetzungen um diese konkreten Aufgaben und gleichfalls im Streit um die bedeutsamen Fragen der ausländischen Arbeitskräfte und der Konjunkturpolitik verliefen die Fronten nicht nach dem Schema Opposition - Establishment, so dass sich der oppositionelle Publizist R. Brodmann zu der erstaunten Bemerkung veranlasst fühlte, die bisherigen Verteidiger des Bestehenden spielten nun auf einmal Igel und Hase mit den Kritikern, indem sie die Kritik aufnähmen und zugleich behaupteten, es werde bereits alles geändert; dabei ändere sich nicht das Geringste
[2]. Dass eine « schweigende Mehrheit », der Unruhe überdrüssig, auch die schöpferische Unruhe ersticken und das Pendel wieder nach der konservativen Richtung hin schwingen lassen könnte, wurde freilich auch von weniger progressiver Seite befürchtet
[3].
Solchen Befürchtungen gegenüber ist immerhin festzustellen, dass das Gespräch über die Zukunft in der Öffentlichkeit an Intensität zunahm. So benützte die Schweizerische Volksbank ihr 100jähriges Jubiläum zur Belebung dieses Gesprächs auf breiter Front, wobei sie einen Film und Plakate gestalten liess und Jung und Alt zu bildlichem oder schriftlichem Ausdruck aufforderte
[4]. Das nahende Ende der 60er Jahre regte zum Ausblick auf kommende Jahrzehnte an
[5]. Dabei fehlte die Warnung nicht, die wirtschaftliche Grossmachtpolitik der Schweiz möchte auf gewisse Grenzen stossen wie seinerzeit die militärische bei Marignano
[6].
Mit der vermehrten Ausrichtung auf die Zukunft wandelt sich das
Verhältnis zur Vergangenheit. Das schweizerische Widerstandserlebnis aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges, ein grundlegendes Element im nationalen Selbstverständnis der älteren Generation, blieb nicht unangefochten. Der junge Schriftsteller Peter Bichsel erklärte in einer scharfen Kritik schweizerischer Selbstgerechtigkeit, dass die Armee nur die Unabhängigkeit, nicht aber die Freiheit verteidigen könne und dass auch ein Igel sich zur Nahrungsaufnahme entrollen müsse
[7]. Von pazifistischer Seite wurde rundweg bestritten, dass die Armee im Zweiten Weltkrieg zur Behauptung des Landes etwas beigetragen habe
[8]. Der von Prof. E. Bonjour unter Benützung der bisher unzugänglichen Akten des Bundesarchivs ausgearbeitete Bericht, zu dessen unzensurierter Freigabe sich der Bundesrat entschloss, äusserte sich viel differenzierter, doch wirkte er durch die Berichtigung einer allzu verklärten Guisan-Vorstellung seinerseits ernüchternd
[9]. Scharf prallten altes Widerstandsdenken und neue Zeit- und Weltoffenheit aufeinander, als das EJPD das seit Jahren geplante und vorbereitete Zivilverteidigungsbuch veröffentlichte, das mit der Behandlung der sogenannten « zweiten Form des Krieges » auch vor dem allfälligen Einsatz subversiver Kräfte durch eine feindliche Macht warnen sollte. Dies geschah aber so sehr in einer den Frontstellungen der 40er und 50er Jahre verhafteten Weise, dass weite Kreise der Bevölkerung, namentlich in der jungen Generation, auf der politischen Linken und im französischen Sprachgebiet, die Publikation als bevormundend oder diskriminierend empfanden. Die Verfasser und ihre Berater warden der Verdächtigung jeder oppositionellen Regung, ja einer «faschistoiden» Unterdrückungstendenz, sowie eines anachronistischen Verharrens in der Igelmentalität des Zweiten Weltkriegs bezichtigt, was allerdings die Gegenbeschuldigung auslöste, die Opposition gelte gar nicht der Gestaltung des Büchleins, sondern seinem Inhalt: der Landesverteidigung
[10].
Totalrevision der Bundesverfassung
In dem oben skizzierten politischen Klima ging die Materialsammlung der Arbeitsgruppe Wahlen, die vom Bundesrat 1967 zur Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung eingesetzt worden war, zu Ende
[11]. Ein entschiedener Befürworter der Revision stellte enttäuscht fest, dass es der Aktion nicht gelungen sei, eine Grundwelle konstruktiver Reformdiskussionen auszulösen und damit die Bewegung der «ausserparlamentarischen Opposition» aufzufangen, und dass ein guter Teil der politischen und wissenschaftlichen Prominenz passiv geblieben sei
[12]. Ein dem « Establishment » ferner stehender Kritiker erklärte den Mangel an Interesse damit, dass der Bürger nicht den Eindruck habe, er könne die wichtigen Entscheidungen wirklich beeinflussen; er machte geltend, dass sich das von Max Imboden 1964 als « Mittellage zwischen ungebrochener Zuversicht und nagendem Zweifel » charakterisierte « Malaise », von dem noch die Motionäre Obrecht und Dürrenmatt ausgegangen seien, inzwischen radikalisiert habe, und er warnte davor, die Diskussion auf organisatorisch-funktionelle Fragen zu beschränken und staatliche Zielsetzungen und gesellschaftspolitische Aufgaben auszuklammern
[13]. Demgegenüber gab Prof. K. Eichenberger in seiner Rektoratsrede an der Basler Universität zu bedenken, dass der heutige Mensch auf den Leistungsstaat nicht zu verzichten bereit sei und dass Leistungsstaat und Demokratie nur in einem Kompromiss verbunden werden könnten, woraus sich die Unbrauchbarkeit ideologischer Konzepte ergebe
[14].
Die bei der Arbeitsgruppe eingegangenen Meinungsäusserungen haben unterschiedlichen Umfang wie auch unterschiedliches inhaltliches und politisches Gewicht. Die Kantone reichten zum Teil Berichte von einberufenen Kommissionen, zum Teil eigentliche Vernehmlassungen der Regierungen ein. Einzelne Gremien stützten sich bei der Formulierung auf Ergebnisse von Umfragen
[15], andere urteilten mehr aus Expertensicht. Die Auffassungen über die Notwendigkeit und Wünschbarkeit einer Totalrevision waren geteilt; viele Eingaben bevorzugten den Weg über einzelne Partialrevisionen. In der Presse erschienen zusammenfassende Berichte über die wichtigeren Stellungnahmen, die jedoch selten eine öffentliche Diskussion auslösten
[16]. Für 1970 ist die Veröffentlichung aller Antworten auf den Fragenkatalog der Arbeitsgruppe Wahlen vorgesehen. Auf einzelne der vorgebrachten Postulate soll im folgenden bei der Behandlung des betreffenden Sachgebiets hingewiesen werden
[17].
[1] Vgl. SPJ, 1968, S. 7 f.
[2] NZ, 252, 6.6.69; vgl. auch NZ, 600, 31.12.69.
[4] Bund, 108, 11.5.69; TdG, 110, 12.5.69; Schweizerische Handels-Zeitung, 26, 26.6.69.
[5] Vgl. auch R. Schwertfeger, Schweiz 1985 — ein mögliches Zukunftsbild (Vr, 14, 18.1.69-25, 31.1.69); Bund, 184, 10.8.69; 202, 31.8.69; NZ, 527, 16.11.69.
[6] Prof. E. Gruner in einem Vortragszyklus « Die Schweiz seit 1945 » (Bund, 258, 4.11.69).
[7] PETER BICHSEL, Des Schweizers Schweiz, Zürich 1969.
[8] CHRISTOPH GEISER, « Der Anschluss fand statt », in Neutralität, 8/1970, Nr. 1, S. 19 ff. (erschienen Ende Dezember 1969).
[9] Der Bericht erscheint als Band 4-6 von EDGAR BONJOUR, Geschichte der schweizerischen Neutralität, Basel 1970. Vgl. insbes. Bd. 4, S. 226 ff. Zur Freigabe vgl. GdL, 206, 4.9.69; 208, 6./7.9.69; 209, 8.9.69; NZZ, 549, 8.9.69; zu früheren Vorstössen für eine solche auch SPJ, 1966, S. 128.
[10] Vgl. unten, S. 53 f., ferner zur Kontroverse insbes. Vr, 243, 17.10.69; NZ, 479, 19.10.69; Weltwoche, 1876, 24.10.69; Jura libre, 983, 29.10.69; VO, 250, 29.10.69; BN, 457, 1./2.11.69; 479, 15./16.11.69.
[11] Vgl. SPJ, 1967, S. 7 ff.; 1968, S. 26 f.
[12] R. Reich in NZZ, 564, 14.9.69. Starkes Misstrauen politisch aktiver Jugendkreise kam an der Jahresversammlung der schweizerischen Jugendparlamente zum Ausdruck (NZZ, 644, 27.10.69). Ablehnend verhielt sich anderseits der Vorort (Stellungnahme des Vororts des Schweizerischen Handels- und Industrie-Vereins zur Totalrevision der Bundesverfassung, Zürich 1969, S. 29).
[13] K. Kränzle in NZ, 282, 24.6.69; 290, 29.6.69. Vgl. dazu MAX IMBODEN, Helvetisches Malaise, Zürich 1964, S. 5, und SPJ, 1966, S. 8 f.
[14] KURT EICHENBERGER, Leistungsstaat und Demokratie, Basel 1969. Zur kritischen Haltung Eichenbergers gegenüber der Totalrevisionsbewegung vgl. dessen Aufsatz « Richtpunkte einer Verfassungsrevision » in Zeitschrift für Schweizerisches Recht, N.F., 87/1968, 1, H. 4, S. 69 ff.
[15] So veranstaltete die Arbeitsgruppe des Kantons Aargau eine Umfrage bei der Jugend (Vat., 136, 16.6.69; BN, 252, 21/22.6.69).
[16] Eine Ausnahme bildete der Vorschlag der Universität Zürich, den Ständerat abzuschaffen (NZZ, 53, 26.1.69; 99, 14.2.69; Lb, 69, 25.3.69; 76, 2.4.69; Tat, 79, 3.4.69).
[17] Bei der Registrierung bestimmter Postulate und Stellungnahmen stützen wir uns zum Teil auf die uns vorliegenden Originaltexte, zum Teil auf Presseberichte, insbes. für die Kantone Luzern (Vat., 171, 26.7.69; 172, 28.7.69), Baselstadt (NZ, 302, 6.7.69), Baselland (NZ, 211,11.5.69; BN, 191, 10./11.5.69), Graubünden (NBüZ, 94, 3.4.69; 96, 8.4.69; 99, 11.4.69-102, 144.69), Aargau (BN, 252, 21./22.6.69), Thurgau (NZZ, 624, 15.10.69), Tessin (NZZ, 456, 28.7.69) und Genf (TdG, 205, 2.9.69; JdG, 205, 3.9.69), für die Schweizerische Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (NBZ, 109, 12.5.69), die Freisinnig-demokratische Partei der Schweiz (NZZ, 630, 19.10.69), die Konservativ-christlichsoziale Volkspartei der Schweiz (Vat., 151, 3.7.69) und die Sozialdemokratische Partei der Schweiz (Tw, 184, 9./10.8.69), für die Universitäten Basel (BN, 100, 8./9.3.69) und Zürich (NZZ, 53, 26.1.69) sowie die Hochschule St.Gallen (NZZ, 437, 20.7.69).
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