Année politique Suisse 1969 : Grundlagen der Staatsordnung / Rechtsordnung
 
Stimmrecht
Die innenpolitische Bereinigung der Situation wurde denn auch vom Bundesrat an die Hand genommen, und zwar in beiden von der Motion hervorgehobenen Punkten. Was das Frauenstimmrecht betrifft, so folgte der Ankündigung vom 5. März gleich nach der Debatte des Nationalrates über den Bericht zur Menschenrechtskonvention im Juni ein Vernehmlassungsverfahren, in welchem sich die Kantone und die Parteien insbesondere dazu äussern sollten, ob die neue Vorlage den Frauen nur in eidgenössischen oder zugleich in kantonalen Angelegenheiten die Gleichberechtigung zusprechen solle [13]. Keine Partei und nur zwei Kantone [14] empfahlen die gleichzeitige Einführung des kantonalen und kommunalen Frauenstimmrechts; die Beschränkung auf die eidgenössische Ebene wurde einerseits mit föderalistischen Rücksichten, anderseits mit den geringen Erfolgschancen eines weiterreichenden Revisionsversuches begründet. Selbst der Schweizerische Verband für Frauenstimmrecht schloss sich solchen taktischen Überlegungen an, allerdings nicht ohne zugleich einen weniger beschwerlichen Weg vorzuschlagen: die Gewährung der politischen Gleichberechtigung der Frau durch Neuinterpretation der Bundesverfassung [15]. Zwei überwiegend von Sozialdemokraten unterstützte parlamentarische Vorstösse im Nationalrat zielten in derselben Richtung [16]. Auf der andern Seite warnten Kreise, denen eine normale Verfassungsrevision als unausweichlich galt, vor einer zu frühen Wiederholung des Volksentscheids [17]. Der Bundesrat bestritt im Anschluss an ältere Entscheide die Zulässigkeit der vorgeschlagenen Neuinterpretationen der Verfassung. Er liess sich aber nicht davon abhalten, zehn Jahre nach dem Scheitern des ersten Anlaufs erneut an die schweizerischen Stimmbürger zu gelangen; seine im Dezember verabschiedete Vorlage entsprach dem Ergebnis des Vemehmlassungsverfahrens und bezog sich wie die 1959 verworfene bloss auf eidgenössische Angelegenheiten.
Die Entwicklung der Frauenstimmrechtsfrage in den Kantonen [18] berechtigte nicht ohne weiteres zur Hoffnung, dass der Schritt auf Bundesebene diesmal gelingen werde. Zwar ergaben Volksabstimmungen in den Kantonen Tessin und Freiburg überraschend starke Mehrheiten für die Einführung in Kantons- und Gemeindeangelegenheiten [19]. Die Zürcher Stimmbürger, die 1966 die volle Einführung verworfen hatten, folgten nun dem Beispiel Berns und ermächtigten die Gemeinden zur Gleichstellung der Frauen im lokalen Bereich; das positive Resultat kam jedoch im wesentlichen nicht durch eine Zunahme der Befürworter, sondern durch eine Abnahme der Gegner zustande [20]. Die Thurgauer gewährten mit einem blossen Zufallsmehr die Gleichberechtigung in den Schulgemeinden [21]. Eine auf dem Iaitiativweg veranlasste Wiederholung der Abstimmung im Kanton Schaffhausen zeitigte einen Rückgang sowohl der Ja- wie der Neinstimmen gegenüber 1967, wobei sich immerhin die negative Mehrheit verringerte [22].
Nicht nur von den Frauen, sondern auch von Jugendlichen wurde die Zulassung zum Kreis der Stimmberechtigten gefordert. Ein im Herbst konstituierter Verband schweizerischer Mittelschüler kündigte die Lancierung einer Verfassungsinitiative für die Herabsetzung des Stimmfähigkeitsalters auf 18 Jahre an [23]. Der Verband der schweizerischen Studentenschaften führte mit Mittelschülern ein Seminar durch, das darüber hinaus weitere Grundrechte für Jugendliche, insbesondere freie Meinungsäusserung mit allen Mitteln, Versammlungs- und Vereinsfreiheitverlangte [24]. Eine Geste gegenüber der politisch aktiven Jugend lag darin, dass in den beiden letzten Kantonen, die für die Wählbarkeit in Behörden noch ein Mindestalter von 25 Jahren vorschrieben, diese Einschränkung abgeschafft oder ihre Abschaffung vorgesehen wurde [25].
 
[13] Vgl. zum Folgenden BBI, 1970, I, S. 61 ff.
[14] Schwyz und Schaffhausen (Mitteilung des EJPD).
[15] PS, 277, 3.12.69.
[16] Motion Arnold (soz., ZH) für Neuinterpretation von Art. 74, Abs. 1 durch Bundesversammlungsbeschluss und Postulat Gerwig (soz., BS) für Gesetzesrevision auf Grund von Art. 74, Abs. 2; vgl. Verhandl. B.vers., 1969, III, S. 18 u. 26, ferner NZZ, 692, 24.11.69; Vr, 275, 24.11.69.
[17] NBZ, 222, 24.9.69 (Stellungnahme der Schweiz. BGB); GdL, 247, 23.10.69; Ostschw., 298, 24.12.69; JdG, 300, 24./25.12.69; TdG, 301, 24./25.12.69.
[18] Vgl. unten. S. 148.
[19] Tessin; Annahme am 19.10. mit 20 038: 11 751 Stimmen (CdT, 246, 25.10.69; NZZ, 632, 20.10.69); Freiburg: Annahme des Grundsatzes einer Verfassungsänderung am 16.11. mit 19 038: 7772 Stimmen (BBI, 1970, I, S. 72; Lib., 40, 17.11.69; NZZ, 680, 17.11.69).
[20] Annahme am 14.9. mit 92 402: 67 192 Stimmen (am 20.11.1966 93 372 Ja gegen 107 773 Nein; vgl. BBl, 1970, I, S. 70; SPJ, 1966, S. 15; Vr, 217, 17.9.69). Bis zum Jahresende machten immerhin 99 von 171 Gemeinden mit mehr als 80 % der Schweizerbürgerinnen des Kantons von dem neuen Recht Gebrauch (NZZ, 6, 6.1.70).
[21] Annahme am 26.1. mit 13 568: 13 164 Stimmen (BBl, 1970, I, S. 75).
[22] Verwerfung am 14.9. mit 7480: 6698 Stimmen (am 28.5.1967 8399 Nein gegen 6849 Ja; vgl. BBl, 1970, I, S. 74; SPJ, 1967, S. 19).
[23] Lb, 266, 14.11.69. Ein Stimmfähigkeitsalter von 18 Jahren kennt bisher nur Schwyz; im Kanton Zug liegt es bei 19 Jahren. Vgl. auch entsprechenden Vorstoss im Aargauer Grossen Rat (NZ, 25, 16.1.69); ferner SPJ, 1968, 26. Über den Verband vgl. unten, S. 140.
[24] NZZ, 287, 27.6.69.
[25] Abschaffung in Neuenburg (vgl. unten, S. 151); Annahme einer entsprechenden Motion durch den Freiburger Staatsrat (Lib., 105, 6.2.69).