Année politique Suisse 1969 : Grundlagen der Staatsordnung / Rechtsordnung
Öffentliche Ordnung
Im Zusammenhang mit den Zürcher Krawallen war im Sommer 1968 eine Diskussion um das
Demonstrationsrecht in Gang gekommen
[32]. Sie lebte neu auf, als der Zürcher Stadtrat im Juni nach zwei unbewilligten Strassendemonstrationen der Fortschrittlichen Arbeiter, Schüler und Studenten (FASS), die dem gerichtlichen Verfahren gegen Krawallteilnehmer galten, die Bewilligungspflicht für Kundgebungen auf öffentlichem Grund in Erinnerung rief
[33] und kurz darauf das Zürcher Obergericht diese Pflicht durch Kassation eines Freispruchs bestätigte
[34]. Gegen den Entscheid wurde beim Bundesgericht Beschwerde erhoben
[35], und der Rechtsanwalt M. Kuhn reichte beim Kantonsrat eine Einzelinitiative ein, die eine ausdrückliche Aufhebung der Bewilligungspflicht in der Kantonsverfassung verlangte
[36]. Diese wurde aus Kreisen der Sozialdemokratie und des Landesrings unterstützt, erreichte aber das zur Überweisung an die Regierung erforderliche Quorum nicht
[37].
Dem Ruf nach grösserer Demonstrationsfreiheit trat die Auffassung entgegen, dass es angesichts der zunehmenden Verstösse gegen die Öffentliche Ordnung gelte, deren Schutz zu verstärken. Schien doch das Jahr 1969 zunächst eine weitere Steigerung der ordnungsfeindlichen Aktivitäten bringen zu wollen. In der Nacht vom 4./5. Januar griffen in Luzern Jugendliche, die zum Teil von auswärts gekommen waren, die Polizeihauptwache an und legten den Verkehr lahm. Als Anlass wirkte der Tod eines jungen Mannes, der sich mit Pillen vergiftet hatte, in Polizeigewahrsam; in der Presse war darauf die Polizei zu Unrecht verdächtigt worden
[38]. Am 31. Januar folgte dann in Zürich dem weihnächtlichen Sprengstoffanschlag auf die Polizeihauptwache ein solcher auf das Stadthaus; wie beim früheren Vorfall wies ein aufgefundener Zettel auf anarchistische Täterschaft hin
[39]. Sowohl in Luzern wie auch bei den bereits erwähnten Strassenkundgebungen in Zürich — und entsprechend bei zwei Demonstrationen in Bern
[40] — war die Polizei mit Erfolg bestrebt, es nicht zum Handgemenge kommen zu lassen; der Blockierung des Verkehrs begegnete sie durch Umleitungen, das Eindringen der Demonstranten in öffentliche und andere des Schutzes bedürftige Gebäude verhinderte sie durch Einsatz von Wasser und Tränengas, und photographische Aufnahmen sicherten Unterlagen für nachträgliche Verhaftungen
[41]. In Basel, wo im Juli fortgesetzt Sitzdemonstrationen gegen eine Tariferhöhung der Verkehrsbetriebe stattfanden, führte die elastische Taktik nicht zum Ziel; die Polizei griff deshalb schliesslich durch, wobei der Zusammenstoss jedoch glimpflich ablief
[42]. Das defensive Verhalten der Polizei fand freilich nicht überall Vérständnis; da und dort drohten eifrige Freunde der Ordnung mit Aktionen der Selbsthilfe. Gerade auch zur Vermeidung bürgerwehrähnlicher Unternehmungen wurde ein entschiedeneres Vorgehen gegen Sachbeschädigungen und Verkehrsstörungen gewünscht
[43]. Welche konkreten Massnahmen aber jeweils zu treffen seien, blieb stark umstritten; dies zeigte sich etwa in Luzern, als der Stadtrat die strafrechtlich erfassten Krawallteilnehmer kollektiv für den gesamten Sachschaden haftbar machte, in Bern, nachdem der aus Zürich hergereiste PdA-Kantonsrat F. Rueb vor einer Demonstration vorsorglich festgenommen worden war, oder in Zürich, als der Polizeibeamtenverband — freilich erfolglos — die Abschaffung des Gummiknüppels verlangte, über dessen Gebrauch Unsicherheit entstanden war
[44]. Die angefochtene Stellung der Polizei wirkte sich auch in Rekrutierungsschwierigkeiten aus
[45]. Zur Kritik an der Polizei gesellte sich in Zürich Kritik an der gerichtlichen Behandlung der Strassenkrawalle. In den Prozessverhandlungen über die Unruhen des Sommers 1968 wurde bis zum Ende des Jahres 1969 nur ein Teil der hängigen Fälle erledigt; dabei fiel auf, dass sich wohl eine grössere Anzahl von Jugendlichen, aber bloss ein einziger Polizeimann zu verantworten hatte
[46].
In die Diskussion über die Polizei wurde das Projekt einbezogen, auf dem Konkordatswege eine
Interkantonale Mobile Polizei (IMP) zu schaffen, die dem Bundesrat zum Schutz ausländischer Diplomaten und internationaler Konferenzen, zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung und in Katastrophenfällen zur Verfügung stehen sollte
[47]. Die Opposition gegen die Aufstellung eines solchen Ordnungsinstruments entsprang einerseits der Sorge um die kantonale Polizeihoheit, anderseits Bedenken, dass die neue Polizeitruppe eher provokativ als beruhigend wirken könnte. Unentwegte Kritiker bezeichneten sie als Werkzeug der Repression
[48]. In Zürich, wo man sich wie in Baselstadt vom Konkordat fernhielt, wurde die Befürchtung geäussert, die eigenen Bestände würden von der interkantonalen Institution zu stark beansprucht
[49]. Der schon Ende 1968 vom Bundesrat den eidgenössischen Räten unterbreitete Antrag, die auf 600 Mann veranschlagte IMP durch Subventionen — insbesondere für Ausrüstung und Ausbildung — zu unterstützen und damit das auf Initiative des Bundes entstandene Konkordat wirksam werden zu lassen, wurde im Ständerat nur vom Vertreter des Landesrings bekämpft. Im Nationalrat jedoch meldete sich eine stärkere Gegnerschaft, die aus der Mehrheit der Sozialdemokraten, dem Landesring und der PdA bestand; ihr Sprecher bezeichnete die IMP als verkappte Bundespolizei und als verfassungswidrig. Bundespräsident von Moos versicherte demgegenüber, dass der Bundesrat von der ihm durch das Konkordat eingeräumten Einsatzkompetenz nicht ohne Einvernehmen mit den betroffenen Kantonen Gebrauch machen werde
[50]. Nach der Verabschiedung durch beide Räte wählte die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren den Walliser Kantonspolizeichef E. Schmid provisorisch zum Kommandanten der vorgesehenen Truppe
[51]. Auf kantonaler Ebene wurde vom Solothumer Landesring eine Volksinitiative gegen den vom Kantonsrat beschlossenen Beitritt lanciert
[52].
[32] Berufung auf das Demonstrationsrecht im « Zürcher Manifest » (NZZ, 406, 4.7.68), in einer Erklärung der Zürcher PdA (NZZ, 404, 4.7.68), ferner in NZ, 305, 5.7.68; Vr, 157, 8.7.68. Zu den Zürcher Krawallen vgl. SPJ, 1968, S. 15 ff.
[33] Erklärung vom 20.6. (NZZ, 374, 23.6.69). Die unbewilligten Demonstrationen fanden am 21.5. und am 11.6. statt; bei der zweiten wurde das Obergerichtsgebäude mit roter Farbe beworfen (NZZ, 307, 22.5.69; 352, 12.6.69).
[34] Das Obergericht kassierte einen Freispruch, den ein Bezirksrichter gegenüber gebüssten Teilnehmern an einer unbewilligten Kundgebung des Jahres 1967 verfügt hatte (NZZ, 467, 1.8.69; Vr, 178, 2.8.69). Vgl. zur Diskussion Sonntags-Journal, 20, 17./18.5.69; NZZ, 309, 23.5.69; Bund, 119, 25.5.69; NZ, 350, 4.8.69.
[36] NZZ, 482, 8.8.69; vgl. auch NZZ, 500, 17.8.69; 503, 18.8.69; 514, 22.8.69.
[37] NZZ, 535, 1.9.69; Vr, 204, 2.9.69.
[38] Vat., 1, 3.1.69; 3, 6.1.69; 4, 7.1.69; NZZ, 6, 6.1.69; 9, 7.1.69; 21, 12.1.69; NZ, 47, 29.1.69.
[39] NZZ. 70, 3.2.69. Vgl. SPJ, 1968, S. 16.
[40] Demonstrationen vom 19.4. gegen einen Empfang der griechischen Botschaft im Stadtzentrum und vom 31.5. gegen «militärische und polizeiliche Unterdrückung» (Bund, 91, 21.4.69; 125, 2.6.69; TLM, 152, 1.6.69.). Vgl. auch unten, S. 33, Anm. 170, und 47.
[41] Vgl. dazu auch Sonntags-Journal, 26, 28./29.6.69; GdL, 267, 15./16.11.69.
[42] NZ, 303, 7.7.69; 326, 20.7.69; 327, 21.7.69; 330, 22.7.69; NZN, 155, 8.7.69; BN, 297, 21.7.69. Zurückhaltung bewies die Polizei auch bei Zusammenstössen zwischen gegensätzlichen Richtungen am 1. Mai; in Lugano (NZZ, 266, 2.5.69) und in Moutier (vgl. unten, S. 31, Anm. 146) griff sie allerdings ein (vgl. auch TdG, 102, 2.5.69).
[43] Vgl. Tw, 5, 8.1.69; NZZ, 35, 17.1.69; 357, 15.6.69; NZ, 29, 19.1.69; 307, 9.7.69; 311, 11.7.69; Vat., 16, 21.1.69; Bund, 128, 5.6.69; 138, 17.6.69; 139, 18.6.69. Zur Förderung einer allgemeinen Wachsamkeit gegenüber Subversion und Spionage bildete sich eine Aktion für freie Demokratie (Lb, 134, 13.6.69; NZZ, 473, 5.8.69; 729, 16.12.69).
[44] Vgl. zu Luzern: NZZ, 359, 16.6.69; Vat., 137, 17.6.69; zu Bern; VO, 91, 22.4.69; NZ, 182, 22.4.69; Bund, 94, 24.4.69; 222, 23.9.69; Tw, 94, 24.4.69; zu Zürich: NZZ, 357, 15.6.69; 363, 17.6.69; 400, 3.7.69; 426, 15.7.69.
[45] Insbesondere bei der Zürcher Stadtpolizei (NZZ, 563, 12.9.69; 593, 26.9.69.)
[46] NZZ, 281, 9.5.69; 295, 16.5.69; 350, 11.6.69; 358, 16.6.69; 391, 30.6.69; 625, 16.10.69; 628, 17.10.69. 630, 19.10.69; 635; 22.10.69; 678, 16.11.69; Weltwoche, 1859, 27.6.69; 1871, 19.9.69; Vr, 164, 17.7.69; 248, 23.10.69.
[47] Vgl. SPJ, 1968, S. 22 f.
[48] Neutralität, 7/1969, März, S. 3 u. 33 ff. Vgl. auch NZZ, 111, 20.2.69; 393, 1.7.69.
[49] Regierungsrat Mossdorf im Kantonsrat (NZZ, 120, 24.2.69).
[50] Verhandlungen des StR vom 8.3. (Sten. Bull. StR, 1969, S. 20 ff.), des NR vom 4.6. (Sten. Bull. NR, 1969, S. 229 ff.).
[51] NZZ, 674, 13.11.69. E. Schmid ist zugleich Kommandant der Heerespolizei, kündigte aber die Niederlegung dieses Kommandos an (Sonntags-Journal, 47, 22./23.11.69; NZ, 594, 28.12.69).
[52] NZZ, 638, 23.10.69; 716, 8.12.69.
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