Année politique Suisse 1969 : Grundlagen der Staatsordnung / Rechtsordnung
 
Strafrecht
Die vom Ständerat im Frühjahr 1967 behandelte Revision des Strafgesetzbuches, die bedeutsamste seit dessen Einführung, gelangte im März 1969 vor den Nationalrat; die lange Zwischenzeit wurde von den Vertretern der Ratskommission mit organisatorischen Mängeln der Eidg. Justizabteilung begründet [53]. Den Anträgen des Bundesrates, die vom Ständerat ohne wesentliche Änderungen genehmigt worden waren, lag die Tendenz zugrunde, im Strafvollzug die auf Erziehung und Wiedereingliederung ausgerichteten Elemente zu verstärken; der Nationalrat führte nun die Revision in der eingeschlagenen Richtung weiter: Freiheitsstrafen von weniger als drei Monaten sollten nur noch als Haft, nicht als Gefängnis ausgefällt werden; für die Zeit nach Verbüssung der halben Strafdauer wurde die Möglichkeit einer Beschäftigung ausserhalb der Anstalt (Halbfreiheit) vorgesehen; die maximale Gefängnisstrafdauer, für die ein bedingter Vollzug möglich wäre, sollte von einem auf zwei Jahre erhöht werden; auf die Nebenstrafe der Einstellung in der bürgerlichen Ehrenfähigkeit wurde verzichtet; endlich wurde die bereits von der Ständeratskommission vorgeschlagene, aber nicht durchgedrungene Einrichtung von Therapieheimen und Trainingsanstalten für Jugendliche befürwortet. Die Beteiligung an den Beschlussfassungen war freilich gering, und das Ergebnis, dessen innere Folgerichtigkeit durch einzelne Zufallsentscheide beeinträchtigt erschien, liess sowohl die Verteidiger wie die konsequenten Gegner des Vergeltungs- oder Sühneprinzips im Strafrecht unbefriedigt [54]. Die Jahreskonferenz der Staatsanwälte forderte den Ständerat zur Rückweisung der Vorlage an das EJPD auf, da ihr verschiedene Reformpunkte zu weit gingen [55]. Für Reformen im Strafrecht und namentlich im Strafvollzug setzte sich im übrigen eine Ende 1968 gegründete « Schweizerische Gefangenengewerkschaft » ein [56]. In der Frage der administrativen Versorgung, deren Voraussetzungen in der Strafgesetzvorlage etwas präziser formuliert werden, regte ein parlamentarischer Vorstoss die Einführung der verwaltungsgerichtlichen Überprüfung an, die noch nicht in allen Kantonen möglich ist [57].
 
[53] Verhandlungen des NR vom 10.-19.3. (Sten. Bull. NR, 1969, S. 64 ff., 159 ff. und 180 ff.). Vgl. dazu SPJ, 1967, S. 18.
[54] Vr, 66, 20.3.69; Ostschw., 69, 22.3.69; Lb, 104, 7.5.69. Zur grundsätzlichen Diskussion vgl. auch PETER ALBRECHT, « Strafrechtsreform als sozialdemokratisches Anliegen », in Profil, 1969, S. 33 ff.; EDUARD NÄGELI, «Subkultur des Asozialen », in Neutralität, 7/1969, Nr. 11, S. 21 ff.; NZZ, 104, 17.2.69.
[55] BN, 183, 6.5.69; NZZ, 288, 12.5.69. U.a. wurde auch die Aufhebung der Mitteilung gelöschter Strafen an Untersuchungsbehörden und Strafgerichte beanstandet. Ähnlich die Schweiz. Kriminalistische Gesellschaft (BN, 192, 12.5.69), die Freisinnige Partei des Kantons Zürich (NZZ, 540, 3.9.69); ferner NZZ, 579, 21.9.69.
[56] Weltwoche, 1836, 17.1.69; NZZ, 200, 31.3.69; 263, 1.5.69.
[57] Interpellation Schaffer (soz., BE) im NR (Verhandl. B.vers. 1969, IV, S.53; NZZ, 700, 28.11.69; Weltwoche, 1883, 12.12.69).