Année politique Suisse 1969 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
 
Regierung
Der Bundesrat stellte im Herbst nach einer Überprüfung der Lage fest, dass die Verwirklichung der 1968 vorgelegten Richtlinien zur Regierungspolitik im allgemeinen befriedigend vonstatten gehe [1]. Wenn er diese ersten Richtlinien noch ohne gesetzliche Verpflichtung, allein in Ausführung des von den eidgenössischen Räten in der Motion Schürmann von 1967 ausgedrückten Begehrens, aufgestellt hatte, so schritt er nun zu der von jener Motion beantragten gesetzlichen Verankerung sowohl der Richtlinien wie auch einer gleichfalls periodischen Rechenschaftsablage über deren Vollzug. Die gegen Jahresende vorgeschlagene Revision des Geschäftsverkehrsgesetzes sah die Unterbreitung des Richtlinienberichts zu Beginn der Legislaturperiode — in der Botschaft wurde die erste Sommersession als Termin genannt — und die Erstattung des Rechenschaftsberichts auf die letzte Sommersession vor den Wahlen vor, ferner getrennte Debatte in beiden Räten ohne Kommissionsvorberatung [2].
Die Frage der Modalitäten für die Bestellung des Bundesrates, die nach der alternativelosen Wahl Rudolf Gnägis im Jahre 1965 Gegenstand mehrerer parlamentarischer Vorstösse gewesen war und in der Zwischenzeit die Präsidenten der Bundesversammlungsfraktionen und der Landesparteien beschäftigt hatte, fand im Februar in einem neuen Gespräch der Fraktions- und Parteispitzen, das von Bundesrat Tschudi geleitet wurde, eine Vorentscheidung [3]. Man fasste eine Aufhebung der Schranke, es dürfe nicht mehr als ein Bundesrat aus demselben Kanton gewählt werden, ins Auge und dazu eine Erweiterung des Kollegiums auf Neun oder elf Mitglieder. Der Bundesrat zeigte sich aber nur zur erstgenannten Änderung bereit, und deren isolierte Behandlung hielt man wiederum nicht für aussichtsreich genug. Die Erweiterungsfrage wurde immerhin der von Bundeskanzler Huber präsidierten Expertenkommission überwiesen, die eine Revision des Organisationsgesetzes der Bundesverwaltung vorzubereiten hat [4].
Bevor die verwaltungsinternen Abklärungen sich zu konkreten Anträgen verdichtet hatten, sah sich die Bundesversammlung veranlasst, neue Ersatzwahlen in die Landesregierung vorzunehmen. Am 6. und 8. Oktober folgten sich die Demissionen der Bundesräte Schaffner und Spühler; die zweite kam einigermassen erwartet, die erste eher überraschend [5]. Die beiden Magistraten, die mit ihrem Mut zur Unpopularität oft auf Widerstände gestossen waren, ernteten nunmehr weithin Anerkennung, der eine insbesondere als Pragmatiker der Integrations- und der Landwirtschaftspolitik, der andere als Förderer einer Öffnung der Schweiz zur UNO und zur Dritten Welt; doch wurden bei den Sozialdemokraten gewisse Vorbehalte gegenüber Schaffner, in bäuerlichen und z. T. auch in bürgerlichen Kreisen solche gegenüber Spühler geäussert. Die Nachfolgefrage war sogleich Gegenstand reger Diskussion, wobei zusätzliche Rücktritte als wünschbar bezeichnet wurden; die konservativchristlichsozialen Bundesräte machten jedoch keine Miene, weitergespannten Kombinationen freien Raum zu gewähren. Mit einem raschen Entscheid rissen die sozialdemokratischen Führungsgremien das Gesetz des Handelns an sich: schon am 9. Oktober erkor die Fraktion auf Antrag ihres Vorstandes und der Geschäftsleitung der Partei den auch auf bürgerlicher Seite anerkannten waadtländischen National- und Staatsrat Pierre Graber zum Kandidaten [6]. Sie entsprach damit dem Ruf nach Wiederherstellung einer Zweierrepräsentation der Romandie und verwies so die freisinnigen Königsmacher praktisch auf die deutsche Schweiz; allerdings fand in bürgerlichen welschen Kreisen und auch im konservativ-christlichsozialen Lager der Gedanke, mindestens vorübergehend den Bundesrat mit drei Vertretern der französischsprachigen Schweiz zu besetzen — die Deutschschweizer also auf eine Minderheit zu reduzieren — Anklang, vor allem nachdem zwei prominente Zürcher Anwärter, der Unternehmerkreisen nahestehende Ständerat Honegger sowie Nationalrat und Stadtrat Bieri, auf eine Kandidatur verzichtet hatten [7]. Der Zürcher Freisinn kam schliesslich mit der Nomination des zürcherischen Volkswirtschaftsdirektors Ernst Brugger der Konkretisierung des westschweizerischen Anspruchs zuvor [8]; diese wurde namentlich durch den frühzeitigen Verzicht des Lausanner Nationalrates und Stadtpräsidenten Chevallaz, des Gegenkandidaten bei der Wahl Bundesrat Celios im Jahre 1966, erschwert [9]. Am 15. November stellte sich die Radikaldemokratische Fraktion einstimmig hinter den Mann aus dem stärksten Kanton; die welschen Fraktionsmitglieder verzichteten angesichts der Geschlossenheit ihrer deutschschweizerischen Kollegen auf Opposition [10]. Die Wahlen durch die Vereinigte Bundesversammlung erfolgten am 10. Dezember und brachten keine Überraschung mehr. Brugger erhielt 160 Stimmen, wobei 31 auf den radikalen Waadtländer Nationalrat Freymond fielen, der vom Landesring in den Vordergrund gerückt worden war; Grabers Stimmenzahl betrug 188, worin die stärkere Stellung des sozialdemokratischen Kandidaten in seiner Partei zum Ausdruck kam [11].
Die Bestätigung der traditionellen Regeln durch diese Wahlen (Behauptung der deutschsprachigen Mehrheit sowie des Zürcher Sitzes, Rückkehr der Waadt, Unbestrittenheit der « Zauberformel ») liess die Diskussion über Zusammensetzung und Grösse des Bundesrates neu aufleben [12]. Dabei wurde vermerkt, dass nicht so sehr die rechtlichen als die politischen Voraussetzungen, nämlich der Wille aller grossen Parteien zur Teilhabe an der Régierungsmacht, einen gewissen Immobilismus des Systems verursachten [13].
Die Vereinigte Bundesversammlung wählte turnusgemäss Bundesrat Tschudi zum Bundespräsidenten für 1970 und Bundesrat Gnägi zum Vizepräsidenten [14]. Gegen den amtierenden Bundespräsidenten von Moos wurde noch vor Jahresende ein Angriff wegen seiner journalistischen Tätigkeit vor dem Zweiten Weltkrieg gerichtet: die Zeitschrift « Neutralität » machte ihn für antisemitische Artikel des von ihm seinerzeit redigierten « Obwaldner Volksfreund » verantwortlich und forderte ihn zum Rücktritt aus dem Bundesrat auf. Der Angriff fand insbesondere in Linkskreisen eine gewisse Unterstützung; vom EJPD wurde jedoch eine antisemitische Haltung des Redaktors von Moos bestritten [15].
 
[1] NZZ, 573, 18.9.69; NZ, 428, 18.9.69. Vgl. SPJ, 1968, S. 8 ff.
[2] BBI, 1969, II, S. 1318 ff. Vgl. dazu NZZ, 714, 7.12.69; JdG, 285, 6./7.12.69. Zur Motion Schürmann vgl. SPJ, 1967, S. 12 f.
[3] BN, 73, 18.2.69; GdL, 40, 18.2.69; NZZ, 105, 18.2.69; NZN, 44, 22.2.69; NZ, 89, 23.2.69. Vgl. SPJ, 1965, in SJPW, 6/1966, S. 147; SPJ, 1966, S. 10 f. Entsprechende Konferenzen fanden bereits am 8.3.1967 und am 21.11.1968 statt. Die Eidg. Justizabteilung arbeitete als Unterlage einen Bericht aus.
[4] Vgl. SPJ, 1968, S. 11, insbes. Anm. 25.
[5] NZZ, 610, 7.10.69; 613, 9.10.69; NZ, 459, 7.10.69; 460, 8.10.69; Bund, 234, 7.10.69; 236, 9.10.69; GdL, 233-235, 7.-9.10.69; JdG, 233, 7.10.69; 235, 9.10.69; Ostschw., 233, 7.10.69; 235, 9.10.69; Lib., 6, 7.10.69; 8, 9.10.69; TLM, 280, 7.10.69; 282, 9.10.69; TdG, 234-236, 7.-9.10.69, Vr, 235, 8.10.69; 236, 9.10.69; NBZ, 234, 8.10.69; 235, 9.10.69; NZN, 233, 8.10.69; 234, 9.10.69; Tat, 236, 8.10.69; Tw, 236, 9.10.69; 238, 11./12.10.69; Lb, 235, 9.10.69; BN, 420, 9.10.69; 424, 11./12.10.69.
[6] NZZ, 615, 10.10.69; GdL, 236, 10.10.69; PS, 232, 11.10.69; Vat., 236, 11.10.69; Lb, 237, 11.10.69. In der Fraktion wurde von jüngeren Mitgliedern der Genfer NR Chavanne vorgeschlagen. Der Parteivorstand bestätigte nach einer Verzichterklärung Chavannes den Fraktionsentscheid (Tw, 239, 13.10.69).
[7] JdG, 236, 10.10.69; 267, 15./16.11.69; TdG, 238, 11./12.10.69; TLM, 298, 25.10.69; NZN, 248, 25.10.69; Vat., 255, 4.11.69; Ostschw., 264, 14.11.69; GdL, 267, 15./16.11.69. Zum Verzicht Honeggers und Bieris vgl. NZZ, 640, 24.10.69; 646, 28.10.69; NZ, 491, 26.10.69; Sonntags-Journal, 44, 1./2.11.69.
[8] NZZ, 658, 4.11.69.
[9] Vgl. TLM, 283, 10.10.69; ferner Bund, 266, 13.11.69.
[10] NZZ, 679, 17.11.69. Der von seiner Kantonalpartei während eines Auslandaufenthalts nominierte Urner Nationalrat und Fraktionspräsident A. Weber zog seine Kandidatur kurz vor dem Fraktionsentscheid zurück (vgl. NZZ, 655, 3.11.69; Sonntags-Journal, 46, 15./16.11.69).
[11] NZZ, 721, 11.12.69.
[12] Vgl. Erklärung NR Vontobels vor der Wahl im Namen der Landesringfraktion (Tat, 291, 11.12.69); Einreichung einer Motion Vontobel (Verhandl.B.vers., 1969, IV, S. 37 f.); Ostschw., 287, 11.12.69; TLM, 345, 11.12.69; NZ, 572, 12.12.69; 575, 14.12.69; Lib., 60, 12.12.69; Lb, 290, 12.12.69; NZZ, 726, 14.12.69; BN, 525, 15.12.69; JdG, 292, 15.12.69.
[13] Bund, 292, 14.12.69. Vgl. dazu SPJ, 1968, S. 13; ferner ERICH GRUNER, Regierung und Opposition im schweizerischen Bundesstaat, Bern 1969, S. 56 ff., wo zur Profilierung der Opposition eine periodische Koalitionsbildung auf Grund eines Regierungsprogramms vorgeschlagen wird. Ein ähnlicher Vorschlag wurde in der Antwort der Universität Zürich auf die Totalrevisionsumfrage formuliert (vgl. oben, S. 11, Anm. 17).
[14] Tschudi erhielt die hohe Zahl von 213 Stimmen, Gnägi deren 166 (NZZ, 721, 11.12.69; Bund, 290, 11.12.69).
[15] Vgl. Neutralität, 8/1970, Nr. 1, S. 31 ff.; dazu NZ, 597-599, 30. u. 31.12.69; VO, 302, 30.12.69; Vr, 304, 30.12.69.