Année politique Suisse 1969 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
 
Gerichte
Aufgaben und Praxis des Bundesgerichts, die bereits in früheren Jahren die öffentliche Diskussion beschäftigt hatten, kamen im Rahmen der Totalrevisionsumfrage sowie in mehreren parlamentarischen Vorstössen erneut zur Sprache. Die Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit für die Bundesgesetzgebung wurde in einer grösseren Zahl von Antworten an die Arbeitsgruppe Wahlen befürwortet [43]. Nationalrat Schürmann (k.-chr., SO) versuchte einen Schritt in dieser Richtung zu veranlassen, wenn er in einer Motion die Bildung einer vorwiegend aus Staatsrechtslehrern zusammengesetzten Kommission vorschlug, die vom Bundesrat wie vom Parlament zur Begutachtung von Gesetzes- und Beschlussesentwürfen zu konsultieren wäre. Bundespräsident von Moos zeigte sich der Initiative gewogen [44]. Verschiedene Parlamentarier setzten sich für eine Erleichterung der staatsrechtlichen Beschwerde gegen kantonale Entscheide ein, wozu namentlich ein Fall Anlass gab, in welchem das Bundesgericht einem neuenburgischen Schafbauern, der infolge von Nachlässigkeit kantonaler Amtsstellen von einer Tierkrankheit befallen worden war, aus formellen Gründen eine angemessene Entschädigung verweigert hatte [45]. Der Chef des EJPD teilte im September dem Nationalrat mit, dass eine Expertenkommission beauftragt worden sei, die Frage einer Revision des Organisationsgesetzes für die Bundesrechtspflege zu prüfen [46]. Im Zusammenhang mit dem Prozess gegen die palästinensischen Attentäter, die am 18. Februar in Kloten ein israelisches Verkehrsflugzeug angegriffen hatten, wurde die Meinung geäussert, dass Straffälle von nationaler Bedeutung nicht vor ein Kantons-, sondern vor das Bundesgericht gehörten. Demgegenüber wurde bezweifelt, dass die Misslichkeiten des Verfahrens — Hungerstreik und Aussageverweigerung der palästinensischen Angeklagten, Ausstandsbegehren und Mandatsniéderlegung seitens ihrer Verteidiger, Vorwürfe der Regierung an die Verteidigung der Attentäter, wiederholte öffentliche Stellungnahmen von Verteidigern — in der Zuweisung an ein kantonales Gericht begründet lägen; hinter den Differenzen um die Prozedur stand letztlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Rechtsprechung und Politik [47].
 
[43] Vgl. oben, S. 11, Anm. 17.
[44] Vom Nationalrat am 27.11. als Postulat überwiesen (NZZ, 700, 28.11.69; NZ, 549, 28.11.69).
[45] Fall Léo Nyfeler, der von den eidgenössischen Räten schliesslich dadurch beigelegt wurde, dass die Petitionskommissionen, an die Nyfeler eine Verantwortlichkeitsklage gegen zwei Bundesrichter gerichtet hatte, den Auftrag erhielten, dem Geschädigten als finanzielle Geste eine Summe auszahlen zu lassen (Sten. Bull. NR, 1968, S. 661 ff.; Verhandl. B.vers., 1969, III, S. 57; NZZ, 613, 9.10.69; 615, 10.10.69; Tw, 249, 24.10.69; Vat., 255, 4.11.69).
[46] Beantwortung der Motion Cadruvi (k.-chr., GR) und der Postulate Bachmann (k.-chr., SZ) und Caroni (k.-chr., TI), die vom NR am 24.9 überwiesen wurden ( Verhandl. B.vers., 1969, 111, S. 18 u. 21: NZZ, 368, 19.6.69; 589, 25.9.69); der StR überwies die Motion Cadruvi am 11.12. (NZZ, 723, 12.12.69). Vgl. auch Tat, 88, 16.4.69.
[47] Vgl. unten, S. 44 f.; ferner NZZ, 190, 26.3.69; 238, 20.4.69; 422, 14.7.69; 426 u. 427, 15.7.69; 429, 16.7.69; 516, 24.8.69; 595, 29.9.69; 629, 18.10.69; 699, 28.11.69; NZ, 562, 6.12.69; 587, 21.12.69; zur Frage Bundes- oder Kantonsgericht vgl. GdL, 287, 9.12.69; 291, 13./14.12.69; TdG, 301, 24./25.12.69; Tat, 306, 30.12.69.