Année politique Suisse 1969 : Wirtschaft / Allgemeine Wirtschaftspolitik
 
Wirtschaftsordnung
Die schweizerische Wirtschaftsordnung erfuhr 1969 keine grundlegenden Änderungen. In der Diskussion um die Totalrevision der Bundesverfassung wurden indessen verschiedene Neuerungen vorgeschlagen. In einem Teil der Antworten auf den Fragebogen der Kommission Wahlen wurde eine Formulierung der wirtschaftspolitischen Aufgaben des Bundes gewünscht. Dabei stand vor allem eine umfassendere konjunkturpolitische Kompetenz des Bundes im Vordergrund. Als Zielsetzung wurde auch die Förderung zurückgebliebener Gebiete genannt. Die Sozialdemokraten forderten die Einschränkung der Handels- und Gewerbefreiheit durch den Vorbehalt der Gesetzgebung (und nicht wie bisher der Verfassung). Verschiedene Antworten empfahlen die Schaffung eines konsultativen Wirtschafts- und Sozialrates [1]. In diese Richtung zielte auch eine in anderem Zusammenhang ausführlich behandelte Motion Schürmann (k.-chr., SO), die als Postulat überwiesen wurde [2]. Diese Vorstösse, wie auch die umstrittene Forderung nach Sozialrechten, stellten Indizien dafür dar, dass über ordnungspolitische Fragen vermehrt diskutiert wurde. So erhielt der emigrierte tschechoslowakische Reformpolitiker Ota Sik unter verschiedenen Malen Gelegenheit, sein Wirtschaftsmodell des « demokratischen Sozialismus » zu erläutern, ohne dass dies irgendwelchen Einfluss auf das schweizerische System gehabt hätte [3]. Anlass zur Diskussion gab auch die Anregung des Präsidenten der Bankiervereinigung, A. Sarasin, bei der Lösung wichtiger wirtschaftlicher Fragen analog zum geldund kreditpolitischen Gentlemen's agreement, das die Banken mit der Nationalbank abschlossen, den Weg der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Wirtschaftsgruppen und Behörden auf der Basis der Freiwilligkeit zu gehen. Diesem Vorschlag wurde entgegengehalten, er sei mit marktwirtschaftlichen Ordnungsvorstellungen nicht in Übereinstimmung zu bringen; er müsse auf direktem Weg zu einem Korporativismus führen [4]. Anderseits veranlasste die Kritik an unserer « Wohlstands- und Konsumgesellschaft » liberale Kreise, die marktwirtschaftliche Ordnung gegen den «Trug der roten Fahne» zu verteidigen, wobei aber den Fragen « jenseits von Angebot und Nachfrage » und dem Problem einer nach sachlichen Gesichtspunkten ins Wirtschaftsleben eingebauten staatlichen Aktivität ein zunehmendes Gewicht beigemessen wurde [5].
 
[1] Vgl. oben, S. 11, Anm. 16 und 17.
[2] Begründung der Motion: NZZ, 177, 20.3.69; Stellungnahme von Bundespräsident von Moos: NZ, 439, 25.9.69; siehe auch NZ, 342, 29.7.69; vgl. unten, S. 166.
[3] Ota Sik vor der Statistisch-volkswirtschaftlichen Gesellschaft Basel (NZ, 57, 4.2.69), in Zürich (NZZ, 685, 20.11.69), am Giessbach-Seminar des Redressement National (NZZ, 578, 19.9.69; 585, 24.9.69).
[4] Vorschlag von A. Sarasin am Schweizerischen Bankiertag (BN, 403, 29.9.69; GdL, 229, 2.10.69); für Kritik vgl. NZZ, 606, 5.10.69; 634, 21.10.69.
[5] Prof. H. Sieber wendet sich gegen die Auffassung von einer « Gesellschaft im Überfluss» (BN, 359, 30./31.8.69) und wehrt sich für die verachtete «Konsumgesellschaft» (NZZ, 702, 30.11.69); siehe auch Vortrag von Prof. Ludwig Erhard vor dem Redressement National (JdG, 108, 10./11.5.69) und Ansichten von NR Broger (k.-chr., Al) (NZZ, 693, 25.11.69) und von Prof. F. Schaller (TdG, 137, 14./15.6.69); vgl. weiter NZZ, 53, 26.1.69; 144, 6.3.69; 564, 14.9.69; 630, 19.10.69; 726, 14.12.69; Bund, 202, 31.8.69; BN, 534, 20./21.12.69.