Année politique Suisse 1969 : Infrastruktur und Lebensraum / Boden- und Wohnwirtschaft / Wohnungsbau und Mietwesen
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Mietwesen
Auf dem Gebiet der Wohnwirtschaft verschärfte sich die politische Spannung. Die Erhebungen in den grösseren Gemeinden ergaben zwar eine weitere Zunahme der Produktion, doch der Leerwohnungsbestand sank noch tiefer ab [22]. Da die noch bestehenden Mieterschutzbestimmungen auf Ende des Jahres ihre Gültigkeit verlieren sollten, befürchtete ein grosser Teil der Mieter von Altwohnungen beträchtliche Mietzinserhöhungen. Besonders stark war die Beunruhigung in Genf und Lausanne, wo zwar die Wohnungsknappheit nicht grösser ist als in den deutschschweizerischen Grossstädten, wo aber der Immobilienbesitz überwiegend in der Hand von Gesellschaften liegt, was menschliche Rücksichtnahme auf die Lage der Mieter weniger aufkommen lässt [23]. Da 1969 nur noch etwa 24 % des schweizerischen Gesamtwohnungsbestandes der staatlichen Mietzinsüberwachung unterstanden [24], wurde von vielen nicht nur deren Weiterführung verlangt, sondern die Gewährung eines Schutzes für alle Mieter; bildete doch die Steigerung der Mieten in den letzten Jahren den hauptsächlichsten Teuerungsfaktor [25]. Nachdem bereits 1967 eine Initiative des Mouvement populaire des familles (MPF) für ein Recht auf Wohnung eingereicht worden war, nach welcher der Bund einerseits für jedermann eine seinen Bedürfnissen entsprechende Wohnung zu tragbarem Preis bereitstellen und anderseits bei Wohnungsmangel Kündigungen und Mietzinserhöhungen kontrollieren sollte [26], erstrebte nun der Chef des waadtländischen Wirtschaftsdepartements, der radikale Nationalrat Debétaz, in einem Postulat eine verfassungsmässige Ermächtigung der Kantone, im Falle von Wohnungsnot selber eine Mietzins- und Kündigungskontrolle einzuführen [27]; dieser parlamentarische Vorstoss wurde noch durch eine waadtländische Standesinitiative unterstützt [28].
Der Antrag des Bundesrates, im OR die Möglichkeit einer richterlichen Kündigungsbeschränkung vorzusehen und es den Kantonen anheimzustellen, wieweit sie davon Gebrauch machen wollten, wurde im März vom Ständerat behandelt [29]. Dieser sprach sich gegen ein Recht zur Aufhebung von Kündigungen aus und reduzierte die Kompetenz des Richters auf eine blosse Erstreckung des Mietverhältnisses; anderseits machte er diese Kompetenz vom Belieben der Kantone unabhängig, um nicht neue zivilrechtliche Unterschiede zwischen den Bundesgliedern zu schaffen [30].
Die Beratung der Vorlage, durch den Nationalrat zögerte sich hinaus. Obwohl der um ein Gutachten ersuchte Bundesrichter O. K. Kaufmann die Verfassungsmässigkeit einer Kündigungsbeschränkung bestätigte, vertagte die vorberatende Kommission das Geschäft auf den Herbst [31]. Dabei wirkten zwei gegensätzliche Tendenzen zusammen. Auf der einen Seite hatten die Anhänger der vollen Marktfreiheit im Wohnungswesen kein besonderes Interesse an der zeitlich lückenlosen Ablösung des Mietnotrechts durch zivilrechtliche Einschränkungen [32]. Sie empfahlen dafür den Abschluss freiwilliger Vereinbarungen zwischen den Hauseigentümerverbänden und den Behörden, wie sie im Mai in Genf und im September in der Waadt getroffen wurden [33]. Auf der andern Seite versprachen sich aber auch Verfechter einer dirigistischen Wohnungspolitik etwas von einer Verschiebung des Entscheids über die zivilrechtliche Vorlage, die ihren Ansprüchen nicht genügte: sie rechneten damit, dass Bundesrat und Parlament es nicht wagen würden, den Wohnungsmarkt auf Neujahr 1970 völlig freizugeben, sondern dass sie mit einem dringlichen Bundesbeschluss wenigstens die bisherige Ordnung verlängern würden [34]. Zur Verstärkung des Drucks auf die eidgenössischen Behörden vereinigten sich mehrere politische und soziale Organisationen der Linken zu einer Massendemonstration vor dem Bundeshaus am 20. September [35]. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund jedoch, der sich aufgrund früherer Vorstösse als Urheber der Kündigungsschutzvorlage des Bundesrates betrachtete [36], versuchte diese durch Verhandlungen mit dem Hauseigentümerverband zu retten, wobei als entscheidende Instanz ein paritätisch zusammengesetztes Schlichtungsund Schiedsgremium und ausserdem eine provisorische Geltungsdauer von vier Jahren vorgesehen wurde; die Verständigung scheiterte aber an der Abneigung der Hauseigentümer gegen die Möglichkeit einer Aufhebung von Kündigungen [37]. Dem Nationalrat wurde von seiner Kommission im September eine Fassung unterbreitet, die nur wenig von den Beschlüssen des Ständerates abwich. Doch eine zur Hauptsache aus den Vertretern der Linksparteien und des welschen Bürgertums bestehende Mehrheit setzte es durch, dass die vom Bundesrat vorgesehene Möglichkeit einer Aufhebung von Kündigungen wiederhergestellt wurde [38]. Damit wurde freilich eine Inkraftsetzung der Vorlage auf Anfang 1970 vollends unmöglich. Der Ständerat hielt im Dezember im wesentlichen an seinen früheren Entscheiden fest [39].
Der Bundesrat hatte bereits im Mai erklärt, dass er zwar der Verankerung einer Mietzinskontrolle im ordentlichen Recht negativ gegenüberstehe, dass er aber versuchen müsse, dem völligen Wegfall des Kündigungsschutzes auf Ende 1969 vorzubeugen [40]. Im September präzisierte er seine Wohnungspolitik durch drei Anträge an die Räte: er empfahl einerseits die Verwerfung der Volksinitiative des MPF ohne Gegenvorschlag und ebenso die Ablehnung der waadtländischen Standesinitiative [41]; anderseits ersuchte er um eine Verlängerung und Erweiterung der Massnahmen zur Wohnbauförderung. Die Zusicherung von Bundeshilfe, die nach dem geltenden Gesetz nur bis Ende 1970 erfolgen konnte, sollte weitere drei Jahre hindurch ermöglicht werden, wobei den Gemeinden künftig auch Darlehen zur Erschliessung von Siedlungsgebieten zu gewähren wären; für die vorgesehenen Mehrleistungen wurde ein Finanzbedarf von 65 Mio Fr. in Rechnung gestellt [42]. Als dann die Parlamentsberatungen über die Kündigungsschutzvorlage in der Herbstsession noch keinen Abschluss fanden, entschloss sich der Bundesrat, den verschiedenen Forderungen und Vorstössen zu entsprechen, die auf eine Weiterführung des auslaufenden Mietnotrechts durch dringlichen Bundesbeschluss ausgingen [43]. Sein Antrag, die in Kraft stehenden Vorschriften unverändert bis Ende 1970 beizubehalten, wurde im Dezember von beiden Räten ohne Gegenstimmen angenommen und dringlich erklärt [44]. Damit war für das Jahr 1970 das Entstehen einer Gesetzgebungslücke, die zu unbeschränkten Mietzinserhöhungen und Kündigungen hätte benützt werden können, verunmöglicht. In der gleichen Session befasste sich der Nationalrat auch mit den übrigen Anträgen des Bundesrates. Die Initiative des MPF lehnte er ab. Auch ein von « Monsieurlocataires » (Debétaz) [45] vorgebrachter Gegenvorschlag, der den Inhalt der Initiative nicht mehr in verpflichtender, sondern nur noch in ermächtigender. Form darbot, fand keine Mehrheit, ebensowenig die waadtländische Standesinitiative [46]. Eine Weiterführung der Wohnbauförderungsmassnahmen wurde vom Nationalrat befürwortet, doch verkürzte dieser die vorgeschlagene Frist auf zwei Jahre, um den Bundesrat zu veranlassen, die Ausarbeitung einer neuen Förderungskonzeption, mit der ein Ausschuss der Eidg. Wohnbaukommission beschäftigt ist, zu beschleunigen [47].
 
[22] In den Gemeinden mit über 2000 Einwohnern wurden 1969 42 167 Wohnungen erstellt (1968: 39 534; 1967: 41 232), davon 20 463 in den 65 Städten (1968: 18 928; 1967: 18 730) (Die Volkswirtschaft, 43/1970, S. 109 u. 42/1969, S. 258). Der Leerwohnungsbestand betrug am 1.12.1969 in den Grossstädten 0,05 % (1.12.1968: 0,08 %), in den übrigen Städten 0,20 % (0,24 %), in den Gemeinden mit 5000-10 000 Einwohnern 0,42 % (0,59 %) und in den Gemeinden mit 2000-5000 Einwohnern 0,56 % (0,71 %) (Die Volkswirtschaft, 43/1970, S. 101). Vgl. dazu SPJ, 1968, S. 98 f., insbes. Anm. 139.
[23] Bund, 62, 16.3.69; NZZ, 287, 12.5.69.
[24] BBl, 1969, II, S. 1234.
[25] Vgl. oben, S. 61.
[26] Vgl. SPJ, 1967, S. 99 f.
[27] Vom NR überwiesen am 12.3. (Verhandl. B.vers., 1969, I, S. 21 f.; NZZ, 160, 13.3.69).
[28] Beschluss des Grossen Rates vom 26.2.1969; vgl. BBI, 1969, II, S. 914 f. ; VO, 48, 27.2.69.
[29] Verhandlungen vom 19./20.3. (Sten. Bull. StR, 1969, S. 59 ff.). Vgl. dazu SPJ, 1968, S. 100.
[30] Die Erstreckung wurde für Wohnungen auf 6 Monate, für Geschäftsräume auf 1 Jahr befristet, wobei die Kantone während fünf Jahren zur Verdoppelung der Fristen ermächtigt sein sollten.
[31] NZZ, 289, 13.5.69; TLM, 133, 13.5.69; GdL, 127, 4.6.69. Zum Gutachten und zur Verfassungsmässigkeit vgl. Sten. Bull. NR, 1969, S. 516 ff., u. NZZ, 288, 13.5.69; ferner SPJ, 1968, S. 100.
[32] Vgl. NZZ, 310, 23.5.69; TLM, 157, 6.6.69.
[33] Vgl. TLM, 97, 7.4.69 (Unterredung einer Delegation des Bundesrates mit Vertretern des Vororts und der Verbände der Arbeitgeber, des Gewerbes, der Baumeister und der Hauseigentümer) und NZZ, 297, 19.5.69 (Schweiz. Hauseigentümerverband). Die Vereinbarung in Genf kam durch Vermittlung Bundesrat Schaffners zustande und verlängerte praktisch die noch bestehende bundesgesetzliche Mietzinsüberwachung um zwei Jahre (TdG, 110, 12.5.69; NZZ, 287, 12.5.69). Über die entsprechende waadtländische Vereinbarung vgl. TLM, 248, 5.9.69; GdL, 207, 5.9.69.
[34] Vgl. PS, 123, 4.6.69; NZ, 247, 4.6.69.
[35] An der Demonstration, die hauptsächlich vom MPF getragen wurde, nahmen rund 5000 Personen, überwiegend Welsche, teil; es sprachen die NR Dafllon (PdA, GE), Bussey (soz., VD), Hubacher (soz., BS) und Heil (k.-chr., ZH). Vgl. VO, 158, 12.7.69; 179, 6.8.69; 218, 22.9.69; NZ, 433, 22.9.69; TdG, 221, 22.9.69. '
[36] Vgl. SPJ, 1967, S. 100.
[37] Gewerkschaftliche Darstellung in gk, 29, 4.9.69. Vgl. auch TdG, 206, 3.9.69; NZN, 204, 4.9.69 (Kritik von christlichsozialer Seite).
[38] Verhandlungen vom 23./24.9. (Sten. Bull. NR, 1969, S. 513 ff.). Der Entscheid für das Recht zur Aufhebung von Kündigungen fiel mit 88: 75 Stimmen; bei der Mehrheit befanden sich auch deutschschweizerische Christlichsoziale und Unabhängige (NZZ, 587, 24.9.69; NZ, 438, 25.9.69; JdG, 223, 25.9.69; Tw, 224, 25.9.69). Der NR befristete die Erstreckung von Kündigungen gesamtschweizerisch auf 1 Jahr für Wohnungen und auf 2 Jahre für Geschäftsräume und stellte es den Kantonen frei, anstelle eines Richters eine Kommission als zuständige Instanz zu bezeichnen.
[39] Verhandlungen vom 18.12. (Sten. Bull. StR, 1969, S. 361 ff.). In bezug auf die Fristen der Kündigungserstreckung schloss sich der StR dem NR an.
[40] Bund, 119, 25.5.69. Er stellte schon am 21.5. notfalls einen Antrag auf Verlängerung des geltenden Mietnotrechts in Aussicht.
[41] BBI, 1969, II, S. 887 ff. (Volksinitiative), 914 ff. (Standesinitiative).
[42] BBI, 1969, II, S. 875 ff. Vgl. dazu SPJ, 1965, in SJPW, 6/1966, S. 191 f., u. SPJ, 1968, S. 99.
[43] BBl, 1969, II, S. 1233 ff. Vgl. dazu Motion Heil (k.-chr., ZH), mit Postulat Debétaz (rad., VD) vom NR am 7.10. als Postulat überwiesen (Verhandl. B.vers., 1969, III, S. 22 u. 27 f.; NZZ, 611, 8.10.69); Postulat Clerc (lib., NE), vom StR am 8.10. überwiesen (NZZ, 613, 9.10.69); Einzelinitiative Debétaz (von 8 weiteren Mitgliedern der NR-Kommission für die Kündigungsschutzvorlage unterzeichnet; vgl. Sten. Bull. NR, 1969, S. 527 f.; NZ, 437, 24.9.69; GdL, 222, 24.9.69); ferner Vorsprache von Vertretern der Sozialdemokratischen Partei, des Schweiz. Gewerkschaftsbundes, des Schweiz. Mieterverbandes und des Schweiz. Verbandes für Wohnungswesen bei einer Delegation des Bundesrates (PS, 61, 17.3.69) und Mieterdemonstration vom 20.9. (vgl. oben, Anm. 159).
[44] Verhandlungen des StR vom 24.11. und 9.12. (Sten. Bull. StR, 1969, S. 231 ff. u. 324), des NR vom 2. u. 9.12. (Sten. Bull. NR, 1969, S. 869 ff. u. 949). Die Dringlichkeit wurde im StR mit 33, im NR mit 159 Stimmen beschlossen.
[45] Vgl. TLM, 268, 25.9.69.
[46] Verhandlungen vom 3.12. (Sien. Bull. NR, 1969, S. 904 ff.; NZZ, 709, 4.12.69; TLM, 338, 4.12.69; JdG, 283, 4.12.69). Die Volksinitiative wurde mit 78: 33 Stimmen verworfen, der Gegenvorschlag mit 71: 54 und die Standesinitiative in vorgerückter Mittagsstunde mit 58: 38 Stimmen. Die Mehrheit bestand hauptsächlich aus bürgerlichen Deutschschweizern.
[47] Verhandlungen vom 3.12. (Sten. Bull. NR, 1969, S. 880 ff.). Der NR überwies zugleich ein Postulat, das auf eine grundsätzliche Überprüfung der Wohnbauförderungskonzeption drang.