Année politique Suisse 1969 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
 
Krankenversicherung
Die beängstigende Kostenentwicklung in der Krankenversicherung stand weiterhin zur Diskussion. Nicht nur eine Expertenkommission des EDI, sondern auch die Ärzteschaft, die Krankenkassen, das Mouvement populaire des familles (MPF) und die Sozialdemokratische Partei mit ihrer am Parteitag vom 2. November textlich bereinigten Krankenversicherungsinitiative suchten nach entsprechenden Lösungsmöglichkeiten. So wurde die Frage diskutiert, ob man mit einer hohen Franchise beispielsweise von 100 oder 200 Franken [22] die kostensteigernden sogenannten Bagatellfälle [23] wirksam bekämpfen könne, und ob dies im Sinne der Präventivmedizin überhaupt sinnvoll sei [24]. Das Konkordat Schweizerischer Krankenkassen wollte die Franchise abschaffen und setzte sich bei der Expertenkommission des EDI für einen sozial gerechten Selbstbehalt ein [25]. Dagegen verteidigte die Krankenkasse für den Kanton Bern [26] und mit ihr die « Ärzte-Information » [27] die gemeinsam mit den bernischen Ärzten vorgeschlagene und am 1. Januar 1969 in Kraft gesetzte « massvoll erhöhte Franchise », da sie zusammen mit dem prozentualen Selbstbehalt die erwünschte kostenvermindernde Wirkung habe. Mit dem bernischen Beispiel, so glaubte die « Ärzte-Information », könne man auch ohne Totalrevision des Kranken- und Unfallversicherungsgesetzes die Kostenprobleme lösen. Entschieden lehnten hingegen die Ärzte nicht nur die « stracks zur Sozialisierung der Gesellschaft » führende « Sozialisierung der Medizin » [28] ab, sondern auch das Krankenversicherungsobligatorium, das von den Sozialdemokraten [29] und vom MPF [30] gefordert wurde. Ausser diesem Obligatorium enthält die sozialdemokratische Initiative noch weitergehende, ebenso umstrittene Postulate. So verlangt sie eine 80prozentige .Erwerbsausfallentschädigung und möchte auch die Zahnbehandlung in die Versicherung eingeschlossen wissen. Nach beiden Vorschlägen soll die Krankenversicherung durch Beiträge der öffentlichen Hand sowie durch Prämien finanziert werden, die zu gleichen Teilen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu tragen wären. Arbeitgeberbeiträge an die Prämien der Krankenversicherung strebt auch ein vom Nationalrat überwiesenes Postulat Vincent (PdA, GE) [31] an. Das MPF sieht anstelle der Prämien pro Person Familienbeiträge vor.
 
[22] Mitteilung des Konkordates Schweiz. Krankenkassen (NZ, 2, 3.1.69).
[23] Zur Kostenexplosion vgl. Tw, 24, 30.1.69; NZZ, 574, 18.9.69; Tw, 224, 25.9.69, und SPJ, 1968, S. 114. Zu den Bagatellfällen vgl. Bund, 5, 8.1.69; 19, 24.1.69; Tw, 26, 1./2.2.69.
[24] NR Berger (soz., ZH) in Tw, 119, 24./25.5.69, und NR Staehelin (LdU, AG) in Tat, 126, 31.5.69:
[25] NZZ, 243, 22.4.69; Tw, 93, 23.4.69; Lb, 92, 23.4.69; vgl. auch NZZ, 124, 26.2.69.
[26] Bund, 5, 8.1.69. — Im Kanton Bern gilt seit dem 1.1.1969 folgende Regelung der Franchise: Versichertengruppe I (Minderbemittelte) 20 Franken; Versichertengruppe II (Mittelstand) 30 Franken.
[27] NZZ, 35, 17.1.69.
[28] NZZ, 623, 15.10.69; vgl. auch Bund, 9, 13.1.69; NBZ, 155, 7.7.69.
[29] Initiativtext in gk, 39, 6.11.69; vgl. Referat am Parteitag von NR R. Müller (Vr, 257, 3.11.69).
[30] NZ, 203, 6.5.69; PS, 42, 21.2.69; 64, 20.3.69; GdL, 44, 22./23.2.69.
[31] Am 25.6. mit 49: 47 Stimmen überwiesen (VO, 148, 1.7.69; NZZ, 382, 25.6.69).