Année politique Suisse 1969 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen
 
Ausländischerpolitik
Das fortgesetzte Anwachsen der ausländischen Bevölkerung in der Schweiz bildete weiterhin einen zentralen Gegenstand der politischen Auseinandersetzung, wobei die Einreichung einer zweiten, verschärften Abbauinitiative noch eine .besondere Intensivierung brachte. Trotz der bisherigen Beschränkungsvorkehren nahm nicht nur die Gesamtzahl der Ausländer, sondern auch der Bestand an kontrollpflichtigen Arbeitskräften weiter zu [1]. Der Bundesrat sah sich vor die Tatsache gestellt, dass das angestrebte Stabilisierungsziel nicht hatte erreicht werden können. Er verfügte deshalb im März die im Abbaubeschluss von 1968 vorgesehene Reduktion des bewilligungspflichtigen Ausländerbestandes der Betriebe um weitere 2 % sowie eine Herabsetzung des jährlichen Ausnahmekontingentes von 9000 auf 7000 Arbeitskräfte [2]. Durch diese Massnahmen fühlte sich das Gastgewerbe besonders hart betroffen. Der Schweizerische Wirteverein verlangte in der Folge die sofortige Zulassung von zusätzlichen ausländischen Arbeitern für zeitlich beschränkte Aufenthalte [3]. Aber auch andere arbeitsintensive Erwerbsgruppen kritisierten den Beschluss des Bundesrates zum Teil recht scharf [4]. Um der Abwanderung der ausländischen Arbeitskräfte aus ihren Kantonen zu begegnen, forderten die Regierungen von Glarus, Appenzell Ausserrhoden, Appenzell Innerrhoden, St. Gallen, Graubünden und Thurgau den Bundesrat auf, die Betriebsplafonierung vorderhand beizubehalten und zwei Jahre lang keine weiteren Ausländer in die Freizügigkeit zu entlassen [5]. Ebenso ersuchte der Regierungsrat von Obwalden das BIGA um eine Neuregelung der Fremdarbeiterzuteilung, die den besonderen wirtschaftlichen Verhältnissen der einzelnen Kantone besser Rechnung tragen würde [6].
Im November legte das BIGA der Kommission des Nationalrates für die Behandlung der zweiten Überfremdungsinitiative eine neue Konzeption für die Regelung der Frage der ausländischen Arbeitskräfte vor. Sie wurde gleichzeitig im Vemehmlassungsverfahren den Kantonen und Wirtschaftsorganisationen zugeleitet. Nach diesem Vorschlag soll entsprechend dem 1967 formulierten Ziel des Bundesrates [7] die Stabilisierung der Gesamtzahl der erwerbstätigen Ausländer (Aufenthalter und Niedergelassene) erreicht werden. Zu diesem Zweck wurde vom BIGA anstelle der bisherigen Betriebsplafonierung mit periodischen Plafondherabsetzungen eine Zuzugssperre mit Ausnahmebewilligungen vorgeschlagen. Die Zahl der jährlich ausreisenden erwerbstätigen Ausländer wird auf 75-80 000 geschätzt. Anderseits treten jedes Jahr ca. 15-20 000 bereits in der Schweiz ansässige erwachsene (insbesondere weibliche) oder jugendliche Ausländer neu in das Erwerbsleben ein. Der verbleibende Auswanderungsverlust soll durch die periodische Festsetzung von eidgenössischen und kantonalen Ausnahmebewilligungskontingenten kompensiert werden [8]. Damit würde praktisch eine Gesamtplafonierung in die Wege geleitet.
Die vorgeschlagene Lösung, die von gewerkschaftlicher Seite begrüsst, von Unternehmerverbänden jedoch abgelehnt wurde [9], war als Alternative zu der «Gewaltkur» gedacht, wie sie die zweite Volksinitiative für Massnahmen gegen die « bevölkerungsmässige und wirtschaftliche Überfremdung der Schweiz» anstrebt. Diese wurde am 20. Mai mit 70 292 gültigen Unterschriften eingereicht [10]. Das Zustandekommen der Initiative löste weithin Beunruhigung und Kritik aus. Fast alles, was sich öffentlich Gehör zu verschaffen wusste, stand dem Volksbegehren ablehnend gegenüber, allerdings mit unterschiedlicher Schärfe [11]. Die hinter der Initiative stehende « Nationale Aktion gegen die Überfremdung von Volk und Heimat » vertritt letztlich weniger wirtschaftliche als politische Ziele. Sie kann als Ausdruck einer weit verbreiteten tiefen Abneigung gegen das Fremde und Ausländische verstanden werden. Davon zeugt etwa auch eine Resolution, in welcher der Bundesrat von ihr aufgefordert wurde, das italienisch-schweizerische Auswanderungsabkommen zu kündigen und jegliche politische Betätigung der Ausländer in der Schweiz zu verbieten [12]. Der Bundesrat beantragte den eidgenössischen Räten, die Initiative, die der Chef des EVD als ökonomischen Selbstmord bezeichnete, Volk und Ständen mit dem Antrag auf Verwerfung und ohne Gegenvorschlag zur Abstimmung zu unterbreiten [13]. Der Verzicht auf einen Gegenvorschlag erregte verschiedenenorts Bedenken, da ohne einen solchen die Ablehnung der Initiative durch die Stimmbürger zweifelhaft schien [14]. Eine Vereinigung lebendige Schweiz, welche die Initiative ablehnte, aber eine «konstruktive Ausländerpolitik» unter Einschränkung der wirtschaftlichen Expansion verfocht, trat mit der Forderung nach Einsetzung eines besonderen Delegierten für Ausländerfragen hervor [15]. Anderseits bildete sich ein « Komitee Schweiz 80 », das eine Gesamtplafonierung mit voller Freizügigkeit und den Verzicht auf Ausnahmebewilligungen und kantonale Kontingente postulierte [16]. Der Nationalrat folgte im Dezember mit einem Stimmenverhältnis von 134:1 dem Antrag des Bundesrates. In der Debatte wurde aber von verschiedenen Rednern betont, dass die bisherigen Stabilisierungsmassnahmen nicht genügten [17].
Auch seitens der italienischen Arbeitnehmer wurde mit Besorgnis auf die neue Initiative reagiert. So warnte die Federazione delle Colonie libere italiane vor einer Verschlechterung des Zusammenlebens zwischen Schweizern und Ausländern [18]. Der Präsident eines Informationszentrums für Immigranten in Mailand protestierte in einem an alle Mitglieder der Bundesversammlung gerichteten Brief gegen das hängige Volksbegehren [19]. Die Colonie libere wandten sich mit einem Katalog von Ansprüchen und Forderungen (Carta rivendicativa) an den italienischen Staat, die schweizerischen Behörden und die wirtschaftlichen Verhandlungspartner. Die schweizerischen Gewerkschaften wurden darin zu einem einheitlichen Vorgehen bei der Lösung der Auswanderungsprobleme aufgerufen; weiter wurde u.a. eine obligatorische Krankenversicherung, eine Pensionsgarantie durch Italien und ein Ausbau des Italienischunterrichts in den Schulen, ja die Erhebung des Italienischen zur ersten Fremdsprache verlangt [20]. Ganz allgemein konnte im Verlauf des Jahres eine vermehrte politische Aktivität der organisierten ausländischen Arbeiter in der Schweiz festgestellt werden [21]. Verschiedentlich erfolgten Klagen über diskriminierende behördliche Massnahmen [22]. Anlässlich seines Besuches in der Schweiz machte ferner Unterstaatssekretär Pedini eine italienische Forderung nach Bundesbeiträgen an das nationale Krankenversicherungsinstitut zugunsten der in Italien lebenden Angehörigen von ausgewanderten Arbeitern geltend [23]. Der Bundesrat teilte jedoch Italien mit, dass die Ausrichtung finanzieller Beiträge an die italienische Krankenversicherung zurzeit nicht in Betracht komme [24].
 
[1] Ausländische Wohnbevölkerung (Jahresaufenthalter und Niedergelassene ohne internationale Funktionäre) Ende 1968: 933 142 oder 15,3 % (Ende 1967: 890 580; 14,8 %) (BBI, 1969, II, S. 1069). Arbeitskräfte Ende August 1969: Jahresaufenthalter: 442 687 (Ende August 1968: 440 912); Saisonarbeiter: 149 201 (144 081); Grenzgänger: 67 341 (63 062) (Die Volkswirtscha/t, 42/1969, S 548).
[2] AS, 1969, S. 308 u. 335; NZZ, 193, 27.3.69. Zum Abbaubeschluss von 1968 vgl. SPJ, 1968, S. 103 f., insbes. Anm. 6.
[3] NZZ, 354, 13.6.69. Der Verband der Wirtevereine des Kantons Zürich drohte sogar mit einer temporären Schliessung aller Gastbetriebe (NZZ, 322, 30.5.69).
[4] Vgl. Bund, 106, 8.5.69 (Schweiz. Baumeisterverband); NZZ, 290, 13.5.69 (Arbeitgeber der Textilindustrie); NZZ, 364, 18.6.69 (Autogewerbeverband); NZZ, 371, 20.6.69 (Association suisse des fabricants de cadrans); TdG, 146, 25.6.69 (Schweiz. Uhrenkammer).
[5] NZZ, 578, 19.9.69; Ostschw., 219, 20.9.69.
[6] NZZ, 660, 5.11.69.
[7] Vgl. SPJ, 1967, S. 105.
[8] NZZ, 671, 12.11.69; 672, 12.11.69; 674, 13.1.1.69; 745, 28.12.69. Für das jährliche Ausnahmekontingent schlug das BIGA eine Zahl von 40 000 Arbeitskräften vor. Davon sollten ca. 5000 dem Bund vorbehalten bleiben; der Rest würde unter Berücksichtigung ihres Entwicklungs- bzw. Überfremdungsstandes auf die einzelnen Kantone aufgeschlüsselt. Nach einem Jahr Aufenthalt würde volle Freizügigkeit gewährt.
[9] Vgl. Vr, 298, 20.12.69 (Schweiz. Gewerkschaftsbund); NZZ, 697, 27.11.69 (Zentralverband schweiz. Arbeitgeber-Organisationen); 723, 12.12.69 (zürcherischer Gewerbeverband).
[10] Vgl. SPJ, 1968, S. 105; BB1, 1969, II, S. 1044; NZZ, 303, 21.5.69. Zur ersten Überfremdungsinitiative, die nur 59 164 Unterschriften erreichte, vgl. SPJ, 1965, in SJPW, 6/1966, S. 196.
[11] Zentralverband schweiz. Arbeitgeber-Organisationen (NZZ, 565, 15.9.69), Schweiz. Gewerkschaftsbund (Tw, 245, 20.10.69), Vereinigung schweiz. Angestelltenverbände (NZZ, 660, 5.11.69); BGB (NBZ, 262, 10.11.69); ferner NZ, 226, 21.5 69; TdG, 119, 23.5.69; Vat., 118, 23.5.69; VO, 116, 23.5.69; NZZ, 312, 25.5.69; JdG, 125, 2.6.69. Zurückhaltender: Vr, 260, 6.11.69; Tw, 272, 20.10.69; eher neutral Lb, 222, 24.9.69.
[12] NZZ, 376, 23.6.69.
[13] BBI, 1969, II, S. 1044; NZZ, 581, 22.9.69; 582, 23.9.69. Vgl. auch Antwort Bundesrat Schaffners auf ein Votum von NR Honegger (rad., ZH) am 5.6. (NZZ, 337, 5.6.69).
[14] NZZ, 607, 6.10.69 (Vereinigung schweiz. Angestelltenverbände); NZZ, 622, 14.10.69 (st. gallisches Gewerkschaftskartell). Vgl. auch Bund, 208, 7.9.69; Lb, 216, 17.9.69; 225, 27.9.69; Vr, 260, 6.11.69; Tw, 272, 20.11.69; ferner Voten Wagners (soz., BL), Grolimunds (rad., SO) und Schmitts (rad., GE) im NR (Sten. Bull. NR, 1969, S. 995 f., 1002 f. u. 1004).
[15] NZZ, 653, 1.11.69; 666, 9.11.69; NZ, 514, 8.11.69; JdG, 261, 8./9.11.69. Dem Vorstand gehört der ehemalige freisinnige Solothurner NR U. Dietschi an.
[16] NZZ, 483, 8.8.69; GdL, 273, 22./23.11.69; NZ, 537, 21.11.69; NZN, 271, 22.10.69. Präsident des Komitees ist A. E. Schrafl.
[17] Debatte vom 16./17.12. (Sten. Bull. NR, 1969, S. 970 f.).
[18] NZZ, 452, 25.7.69.
[19] NZZ, 517, 25.8.69.
[20] NZZ, 183, 24.3.69; 188, 26.3.69; vgl. auch Lb, 77, 3.4.69.
[21] Vgl dazu: HEINZ BÜTLER, «Die Fremdarbeiterfrage — ein Bericht», in Schweizer Monatshefte, 49/1969-70, S. 450 ff.
[22] Ausweisung zweier italienischer Kleinkinder aus Genf (TdG, 177, 31.7.69; VO, 178, 5.8.69; 224, 3.10.69; Bund, 234, 7.10.69); vgl. dazu Kleine Anfrage Vincent (PdA, GE) (TdG, 177, 31.7.69; NZZ, 699, 28.11.69). Manifestation in Genf gegen ein als zu mild empfundenes Urteil gegen zwei des Totschlags an einem Italiener in Graubünden angeklagte Schweizer (TdG, 61, 13.3.69; 75, 29./30.3.69); vgl. dazu Kleine Anfrage Franzoni (k.-chr., TI) (NZZ, 17, 9.1.69).
[23] Bund, 39, 17.2.69.
[24] NZZ, 364, 18.6.69.