Année politique Suisse 1970 : Parteien, Verbände und Interessengruppen / Parteien
 
Sozialdemokratische Partei
Ähnliche Gegensätze wie die KCVP hatte auch die Sozialdemokratische Partei (SP) durchzustehen. Auf den oberen Rängen der Parteihierarchie finden sich die im nationalen System integrierten, reformerisch eingestellten Führungsgremien, auf den unteren Rängen die nonkonformistischen, zum Teil revolutionären oder dogmatischen Jungsozialisten einerseits sowie die Basis der SP, die eher sozial-national eingestellte Arbeitnehmerschaft anderseits. Letztere trat insbesondere anlässlich der Abstimmung über die Überfremdungsinitiative in Gegensatz zu den beiden erstgenannten Parteischichten [25]. Die Spannungen zwischen dem « Parteiestablishment » und den «Jungtürken» entluden sich hauptsächlich am ordentlichen Parteitag in Biel am 28./29. Juni [26]. Das drückte sich am deutlichsten bei der Wahl in die Geschäftsleitung aus, als der Neuenburger Staatsrat R. Meylan zugunsten des Bieler Grossrates und Pazifisten A. Villard über die Klinge springen musste [27]. Meylan hatte der Programmkommission vorgestanden, die in ihrem Bericht die Unvereinbarkeit von demokratischem und revolutionärem Sozialismus sowie die Ablehnung der Gewalt und die Bejahung der reformistischen Aktion und der demokratischen Ordnung betonte. Diesem Bekenntnis zur Evolution opponierten vor allem die Jungen aus Zürich und dem Welschland. Schliesslich verpflichtete sich der Parteitag auf den demokratischen Staat und zur Respektierung des Volkswillens, lehnte aber eine Verurteilung des revolutionären Weges und eine eindeutige Bevorzugung des reformerischen Sozialismus ab. — Als Nachfolger von Nationalrat F. Grütter (BE) wurde mit Akklamation der aargauische Erziehungsdirektor, Nationalrat A. Schmid, ins Parteipräsidium erhoben. In seiner Standortbestimmung versuchte er die divergierenden Richtungen im schweizerischen Sozialismus zu versöhnen. Einesteils befürwortete er die Beteiligung der SP an der Landesregierung. Er wandte sich gegen eine undifferenzierte Schwarz-Weiss-Malerei. Auch die « bürgerlichen » Parteien hätten « im Strahlungsfeld sozialdemokratischer Politik bedeutsame Wandlungen durchgemacht » [28]. Andernteils forderte er den « Kampf gegen bürgerliche Vorurteile », konkret: Kommunalisierung des Bodens in den Wohn- und Industriezonen, Erweiterung der Demokratie vorab im Wirtschafts- und im Bildungssektor [29]. Nationalrat J. Ziegler (GE) widersprach ihm jedoch, indem er nicht nur eine Abkehr von der Politik der Kompromisse und den Verzicht der SP auf die Regierungsverantwortung verlangte [30], sondern auch die Solidarität mit Gruppen, welche andere Mittel anwenden, um sozialistische Ziele zu erreichen. Von dieser « doppelten Legalität », die auch nach dem Parteitag reichlich Anlass zur Diskussion bot, distanzierte sich sogleich Präsident Schmid [31]. Er konnte aber nicht verhindern, dass beschlossen wurde, die sozialdemokratischen Parlamentarier auf eine zwanzigprozentige Kürzung der Militärausgaben sowie die Partei zur Unterstützung der Initiative für ein Waffenausfuhrverbot zu verpflichten [32].
Der Bieler Parteitag fand weitherum Beachtung. In den eigenen Reihen reichte das Spektrum der Meinungen von scharfer Kritik über eine gewisse Unsicherheit in der Bewertung der Ereignisse bis hin zur Begeisterung über das Erreichte [33]. Aussenstehende glaubten Krisen- oder Radikalisierungserscheinungen, jedenfalls Kursänderungen feststellen zu können [34]. Solche Annahmen fanden sich freilich zuweilen bestätigt. Nachdem die SP noch in Biel einstimmig für 'das « Recht auf Wohnung » eingetreten war, wiederholte sie diese befürwortende Haltung auch vor der Abstimmung über die Bundesfinanzreformvorlage. Aber die Kantonalparteien Waadt und Genf missachteten die in der SP sonst konsequent eingehaltene Parteidisziplin, weil ihnen die Vorlage sozial zu wenig gerecht schien [35]. Damit marschierten sie im gleichen Schritt wie die Kommunisten. Eine Zusammenarbeit zwischen der SP und der PdA im Kanton Genf war schon anlässlich der Wahl von R. Daflion in den Administrativrat erfolgt [36]. Auch im Wahlbezirk Ecublens (VD) und im Amtsbezirk Delsberg (BE) verbanden sich bei den entsprechenden Grossratswahlen die dortigen Parteisektionen der SP mit der PdA, was sich im Waadtland auszahlte, im Jura aber die SP einen Sitz kostete und ihr zahlreiche Vorwürfe einbrachte [37].
 
[25] Vgl. oben, S. 130 ff.; ferner: Bildungsarbeit, Mitteilungsblatt der schweizerischen Arbeiterbildungszentrale (zweimonatliche Beilage zu der Gewerkschaftlichen Rundschau), 40/1970, S. 25 ff.
[26] PS, 128, 10.6.70; 143-145, 27.-29.6.70; Tw, 133, 11.6.70; 147-149, 27.-30.6.70; AZ, 146, 29.6.70; TLM, 179, 28.6.70; 180, 29.6.70; TdG, 149, 29.6.70; GdL, 148, 29.6.70; 149, 30.6.70; Ostschw., 148, 29.6.70; 153, 4.7.70; BN, 263-264, 29.6.70; 267, 1.7.70; NZZ, 294, 29.6.70; 300, 2.7.70; Solothurner Zeitung, 147, 29.6.70; Tat, 150, 29.7.70; Bund, 148, 29.6.70; 149, 30.6.70; NZ, 289-290, 29.6.70; 292, 30.6.70; TAW, 26, 30.6.70; VO, 145, 30.6.70; 149, 4.7.70; 151, 7.7.70; gk, 25, 2.7.70.
[27] Vgl. bes. PS, 144, 29.6.70; TdG, 150, 30.6.70; Lb, 152, 4.7.70.
[28] ARTHUR SCHMID, Der demokratische Sozialismus — Aufgabe unserer Generation, Neue Schriftenreihe der SPS, Nr. 2, Bern 1970, S. 4.
[29] Ebd., S. 13 ff.
[30] NR Ziegler wiederholte diese Forderung anlässlich des Herbstkongresses der SP Genf: PS, 269, 23.11.70; VO, 269, 23.11.70; JdG, 273, 23.11.70; TdG, 274, 23.11.70; Tw, 277, 26.11.70.
[31] NR Schmid distanziert sich erneut: Aargauer Tagblatt, 159, 11.7.70 (Interview); GdL, 161, 14.7.70; VO, 157, 14.7.70; 158, 15.7.70. Unbestimmte Stellungnahme von P. Wyss-Chodat, Präsident der SP Genf: PS, 164, 22.7.70: BN, 302, 23.7.70; Tw, 170, 24.7.70; 174, 29.7.70; NZZ, 389, 23.8.70.
[32] Hierzu speziell: BN, 273, 4./5.7.70; vgl. Anm. 26. Die SP-Fraktion beschloss lediglich eine Kürzung von ungefähr 5 %, die aber nicht vorgenommen wurde: vgl. AZ, 215, 17.9.70; 228, 2.10.70; 284, 7.12.70; NZZ (sda), 545, 23.11.70; NBZ, 282, 3.12.70; Sonntags-Journal, 49, 5./6.12.70; Zeitdienst/Apodaten, 50, 31.12.70; oben, S. 51f.
[33] FRITZ MARBACH, « Warum wir stagnieren», in Profil, 1970, S. 241 ff.; RICHARD LIENHARD, « Sprengstoff Parteitag », in Profil, 1970, S. 273 ff.; Tw, 150, 1.7.70; 152, 3.7.70; 154, 6.7.70; AZ, 150, 3.7.70; 151, 4.7.70; 186, 14.8.70; PS, 158, 15.7.70; 164, 22.7.70; 198, 31.8.70.
[34] Kritisch: Lb, 148, 30.6.70; TdG. 150, 30.6.70; Weltwoche, 27, 3.7.70; JdG, 154, 6.7.70; Zeitdienst, 26, 3.7.70; NBZ. 207, 10.7.70. Eher anerkennend: Sonntags-Journal, 27, 4./5.7.70; TAW, 27, 7.7.70. Argwöhnisch: Vat., 147, 29.6.70; NZN, 150, 1.7.70; Lib., 224, 2.7.70; NBZ, 149, 30.6.70; 150, 1.7.70.
[35] SP Genf: PS, 241, 21.10.70; JdG, 245, 21.10.70; TdG, 247, 22.10.70; Tw, 247, 22.10.70. SP Waadt: PS, 235, 14.10.70; 267, 20.11.70; GdL, 251, 28.10.70; NZZ, 503, 29.10.70.
[36] Vgl. PS, 20, 27.1.70; GdL, 21, 27.1.70; oben, S. 33 u. 186.
[37] Ecublens: VO, 49, 2.3.70; 50, 3.3.70; 51, 3.3.70. Delsberg: Tw, 93, 23.4.70; TLM, 113, 23.4.70; PS, 104, 12.5.70. Krise der SP Berner Jura: PS, 112, 22.5.70; 154, 10.7.70; TdG, 120, 26.5.70; 145, 24.6.70; NZ, 243, 2.6.70; 278, 23.6.70; AZ, 143, 25.6.70; 170, 27.7.70; s. oben, S. 31.