Année politique Suisse 1970 : Parteien, Verbände und Interessengruppen / Verbände und übrige Interessenorganisationen
 
Arbeitnehmer
In etwas geringerem Ausmass als die Parteien waren 1970 die Verbände Spannungen ausgesetzt. Vorzüglich die Arbeitnehmerorganisationen, und unter diesen in erster Linie der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB), standen offensichtlich in zwei Spannungsfeldern. Einerseits artikulierte sich ein Dissens zwischen Führung und Basis, namentlich vor der Abstimmung über die Überfremdungsinitiative [1]. Anderseits gerieten sie ihres politischen und sozioökonomischen Status wegen ins Kreuzfeuer gesamtgesellschaftlicher Kritik, die vorwiegend von Vertretern der « Neuen Linken » ausging. Diese kritisierten die oligarchischen Tendenzen, die zu einer Verbürokratisierung geführt hätten und eine adäquate Vertretung der Arbeitnehmer verunmöglichten. Der SGB bot solchen Angriffen eine nicht ungünstige Zielfläche. Ihr Präsident, Nationalrat E. Wüthrich (soz., BE), der sich gegen eine gesetzliche Ferienregelung mit dem Argument gewandt hatte, auch den Gewerkschaften müssten Verhandlungsspielräume reserviert werden, wurde vom Schweizerischen Typographenbund (STB) und von anderen linksorientierten Kreisen massiv attackiert [2]. Gelegentlich artete die Kritik in Polemik, ja in geradezu antidemokratische Verhaltensweisen aus [3]. Aus diesem Grund war die Stimmung der Gewerkschafter gegenüber Gruppen der « Neuen Linken » eher gereizt [4].
Durch verschiedene Massnahmen und Forderungen versuchte man diese Spannungen zu absorbieren und auch die Abnahme der Mitgliederbestände aufzufangen. So wurde der paritätische Partnerschaftsfonds des Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiterverbandes (SMUV) und des Arbeitgeberverbandes schweizerischer Maschinen- und Metallindustrieller in eine Stiftung für Wohnungsbau umgewandelt [5]. Anlässlich des Kongresses des SMUV wurde ein « sinnvolles Mitbestimmungsrecht », das die Mitverantwortung impliziert, im Rahmen des Vertragsgedankens postuliert. Im weiteren wurde dort der Arbeitsfrieden lediglich als Mittel und nicht als Zweck bezeichnet. Fast ein Viertel aller Sektionsanträge betraf innerverbandliche Beziehungen, die im Sinne einer Demokratisierung verbessert werden sollten. Die Kongressleitung anerkannte die Notwendigkeit einer Gesamtüberprüfung der Verbandsstruktur, wofür die Einsetzung einer Statutenrevisionskommission vorgeschlagen wurde [6]. Der erweiterte Zentralvorstand des Schweizerischen Bau- und Holzarbeiterverbandes (SBHV) stellte ebenfalls neue gewerkschaftliche Konzeptionen in Aussicht, und auch der Kongress des Verbandes des Personals öffentlicher Dienste (VPOD) schlug ähnliche, freilich durch mehr « klassenkämpferische Rhetorik » geschmückte Töne an [7]. Dieser wählte als erste schweizerische Gewerkschaft eine Frau, R. Schärer, zur Verbandspräsidentin. Kurz darauf wurde Frau M. Zaugg-Alt als erste Frau in das Bundeskomitee des SGB gewählt [8].
Schliesslich konstituierten sich verschiedene neue Gewerkschaftssektionen, die zwar weniger durch hohe Mitgliederzahlen als vielmehr durch ihre Aussergewöhnlichkeit die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Nach vorbereitenden Gesprächen von Intellektuellen, in denen u.a. die Rede von einer « kulturrevolutionären Bewegung » war, deren Impetus aber Nationalrat M. Arnold (soz., ZH), Zentralsekretär des VPOD, etwas dämpfte, wurde am 7. Juli in Olten eine Gewerkschaft «Kultur» als Sektion des VPOD ins Leben gerufen. Sie organisiert Künstler, Musiker, Architekten, Mediziner, Sozialarbeiter, Pädagogen u.a. [9]. Im Oktober wurde in Zürich eine Journalisten-Gewerkschaft, die « Schweizerische Journalistenunion » gegründet, die sich ebenfalls dem VPOD anschloss. Sie verstand sich als notwendige soziale Ergänzung zum Verein der Schweizer Presse, der « allein die Interessen der Journalisten nicht vollumfänglich wahrnehmen » könne [10]. Spanische Arbeiter in der Schweiz gründeten Ende Mai einen eigenen Verband, um ihre unorganisierten Kollegen für die gewerkschaftlichen Ziele zu gewinnen und sich ihrer Probleme anzunehmen. Nur Spanier, die einem Verband des SGB angehören, können diesem spanischen Arbeiterbund (UGT) beitreten [11]. Darum unterstützte der SGB die spanischen Bestrebungen, was bei ähnlichen italienischen Projekten nicht der Fall war. Anlässlich eines Kongresses italienischer Fremdarbeiter in Luzern, der eine gewerkschaftsähnliche Sammlung bezweckte, nahm von den schweizerischen Gewerkschaften nur der Christlichnationale Gewerkschaftsbund teil [12]. Dessen ungeachtet diskutierten Delegationen des Schweizerischen Bau- und Holzarbeiterverbandes und italienischer Parallelorganisationen miteinander [13]. Der Schweizerische Verband evangelischer Arbeiter und Angestellter feierte sein fünfzigjähriges Bestehen. Er hatte bei dieser Gelegenheit eine Statutenrevision vorgenommen, die eine Umwandlung der Genossenschaft in einen Verein mit dem neuen Namen « Schweizerischer Verband evangelischer Arbeitnehmer » zur Folge hatte [14].
 
[1] Vgl. oben, S. 130 ff.; ferner: NZ, 242, 1.6.70 (Gewerkschaftskartell Baselland findet keine 7/. Mehrheit für Neinparole); Tat, 90, 18.4.70; gk, 24, 25.6.70; PS, 155, 11.7.70. Zur Situation der Gewerkschaften allgemein: RENE MAHRER, « Die Gewerkschaftsbewegung im Umbruch unserer Zeit », in Gewerkschaftliche Rundschau, 62/1970, S. 181 ff.; BENNO HARDMEIER, « Die Gewerkschaften in der Wirtschaft », in ebd., 62/1970, S. 357 ff.
[2] Vgl. SPJ, 1969, S. 174; VO, 36, 14.2.70; Sonntags-Journal, 7, 14./15.2.70; NZZ, 76, 16.2.70; AZ, 40, 19.2.70; Zeitdienst, 7, 20.2.70; 11, 20.3.70; NZ. 103, 4.3.70; Lb. 122, 30.5.70.
[3] Vgl. oben, S. 136; ferner: NZ, 185, 24.4.70; 304, 7.7.70; 323, 18.7.70; Zeitdienst, 15, 24.4.70; 27, 10.7.70; 30, 31.7.70. Abwehr: gk, 5, 4.2.70; 35, 1.10.70; 44, 3.12.70; 46, 17.12.70; NZN, 162, 15.7.70; PS, 237, 16.10.70; NZ, 479, 18.10.70.
[4] Z.B. an den 1.-Mai-Feiern in Biel (NZ. 184, 23.4.70) oder in Zürich (NZ, 203, 6.5.70); bezeichnend auch die Ablehnung eines « Kampffonds » durch die Mitglieder des STB in einer Urabstimmung (gk, 14, 15.4.70; NZZ, sda, 174, 16.4.70; Zeitdienst, 14, 17.4.70) oder die Ablehnung einer Beseitigung des Streikverbotartikels im Beamtengesetz am Kongress des Schweizerischen Eisenbahnerverbandes (Tw, 118, 25.5.70; NZZ, 234, 25.5.70; gk, 19, 27.5.70).
[5] PS, 240, 20.10.70; Tw, 245, 20.10.70; NZZ, 488, 20.10.70; gk, 38, 22.10.70.
[6] Tw, 253-256, 29.10.-2.11.70; 287, 8.12.70; AZ, 252, 30.10.70; 253, 31.10.70; 255, 3.11.70; 258, 6.11.70; PS, 249, 30.10.70; 250, 31.10.70; VO. 249, 30.10.70; 251, 2.11.70; 253, 4.11.70; NZZ, 504-509, 29.10.-2.11.70; 514, 4.11.70; NZ, 498, 29.10.70; 500, 30.10.70; 505, 2.11.70; GdL. 252-254, 29.10.-1.11.70; gk, 40, 5.11.70; TAW, 45, 10.11.70; ferner: JOSEF HASLER, « Der Schweizerische Metall- und Uhrenarbeiter-Verband », in Gewerkschaftliche Rundschau, 62/1970, S. 100 ff. Zur VSA-Umfrage über Mitbestimmung: NZZ, 460, 4.10.70.
[7] VPOD: Weltwoche, 26, 26.6.70; NZ, 276, 21.6.70; 277-278, 22.6.70; NZZ, 213, 22.6.70; BN, 253, 22.6.70; Tw. 142, 22.6.70; 143, 23.6.70; VO. 138, 22.6.70; 141, 25.6.70; 143, 27.6.70; Lb, 142, 23.6.70; gk, 24, 25.6.70; vgl. ferner: JÜRG KAUFMANN, «Was ist der VPOD ?», in Gewerkschaftliche Rundschau, 62/1970, S. 305 ff.; SBHV: NZZ (sda), 559, 1.12.70.
[8] AZ, 163, 18.7.70.
[9] NZ, 41, 26.1.70; 318, 14.7.70; NZZ, 43, 27.1.70; Zeitdienst, 4, 30.1.70; 7, 20.2.70; Zeitdienst/Apodaten, 48, 11.12.70; Lb, 157, 10.7.70; gk, 28, 13.8.70; Tw, 189, 15./16.8.70.
[10] NZ, 451, 1.10.70; 469, 12.10.70; PS, 233, 12.10.70; AZ, 236, 12.10.70; Tw, 239, 13.10.70; gk, 37, 14.10.70; 43, 26.11.70; VO, 242, 22.10.70.
[11] NZZ (sda), 256, 6.6.70; GdL (sda), 130, 8.6.70; gk, 22, 11.6.70.
[12] Vgl. oben, S. 134.
[13] 1. Treffen: NZZ. 87, 22.2.70; gk. 9, 4.3.70; 2. Treffen: VO, 88, 20.4.70; NZZ (sda), 179, 20.4.70; 3. Treffen (über das Saisonstatut): NZZ, 422, 11.9.70; Bund, 212, 11.9.70.
[14] TdG, 125, 1.6.70; NZZ, 426, 14.9.70; Bund, 214, 14.9.70; Evangelische Woche, 38, 18.9.70.