Année politique Suisse 1970 : Grundlagen der Staatsordnung / Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein
 
Totalrevision der Bundesverfassung
Als Reformarbeit auf weite Sicht wurden auch die Vorbereitungen für eine Totalrevision der Bundesverfassung weitergeführt. Die Arbeitsgruppe Wahlen veröffentlichte im August die eingegangenen Vernehmlassungen, deren wesentlichste Postulate zur Hauptsache schon im Rahmen der schweizerischen Politik des Jahres 1969 erwähnt worden sind [8]. Alt Bundesrat Wahlen stellte an einer Pressekonferenz fest, dass kaum originelle Vorschläge für eine Umgestaltung des Staates eingegangen seien; es wurde allerdings kritisch vermerkt, dass man auf Entscheid des Bundesrates nicht alle Eingaben in die Veröffentlichung aufgenommen hatte [9]. Von der sog. « ausserparlamentarischen Opposition » lagen jedoch keine Stellungnahmen vor [10]. Besondere Beachtung fand ausser der Befürwortung einer Abschaffung des Ständerates (Universität Zürich) vor allem diejenige einer Einführung des Präsidialsystems in der Landesregierung (Kanton Solothurn). Die Partei der Arbeit beschränkte sich im wesentlichen darauf, als Etappe auf dem Weg zum Sozialismus die Verstaatlichung wichtiger Unternehmungen, ein Mitbestimmungsrecht in den Betrieben sowie Kontrollbefugnisse des Staates gegenüber der Wirtschaft zu fordern [11]. Die Arbeitsgruppe gab bekannt, dass sie aufgrund der vorliegenden Stellungnahmen einen Schlussbericht verfassen werde, der jedoch nicht vor Ende 1971 zu erwarten sei. Das EJPD werde darauf eine erweiterte Kommission mit der Ausarbeitung eines Vorentwurfes zu einer neuen Bundesverfassung beauftragen [12].
Während man sich im allgemeinen damit abfand oder sogar eine gewisse Genugtuung äusserte, dass der Reformeifer des Schweizervolkes nicht höhere Wellen geworfen hatte, wiesen einzelne Stimmen darauf hin, dass die Hauptarbeit erst noch zu tun sei [13]. Neue Impulse versuchten zwei Publikationen zu vermitteln, deren Verfasser sich nicht an das Schema des Fragebogens der Arbeitsgruppe hatten halten wollen. Eine Gruppe jüngerer Akademiker rief zu einem Gespräch über die Schweiz der Zukunft auf, das nicht nur Retuschen an der bestehenden Struktur von Staat und Gesellschaft anstreben, sondern grundsätzlich alles Bestehende in Frage stellen müsse. An die Stelle der von vielen vermissten Leitidee für eine neue Verfassung habe die Konfrontation mit der gewandelten Wirklichkeit zu treten; erst nach einem mehrjährigen « Fegfeuer elementarer Grundsatzdiskussionen » werde man an die eigentliche Verfassungsarbeit gehen können. Die als « Helvetische Alternativen » präsentierte Schrift enthielt nur Fragen und unverbindliche Anregungen, die allerdings bis zur Verstaatlichung des Bodens, zur Kontrolle des wirtschaftlichen Wettbewerbs und zur Demokratisierung der Vorbereitung politischer Entscheide reichten [14]. Zielstrebiger waren die Thesen eines jungen Politologen, der eine Beschränkung der Revision auf das politische Entscheidungssystem empfahl; seine Hauptpostulate zielten auf die Einschaltung des Referendums in die Gesetzesvorbereitung, auf den Übergang zu einem einkammerigen Berufsparlament sowie auf die Einführung des Systems der Präsidialregierung [15].
Die Beschäftigung mit der Zukunft, die seit 1968 wachsendem Interesse begegnet, fand einen ersten Niederschlag in der Bekanntgabe von Ergebnissen der unter der Leitung Prof. F. Kneschaureks stehenden Arbeitsgruppe Perspektivstudien; ihr widmete sich auch eine im März gegründete «Schweizerische. Gesellschaft für Zukunftsforschung » sowie eine im Oktober konstituierte Prospektivkonferenz der « Neuen Helvetischen Gesellschaft » [16].
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P.G.
 
[8] Arbeitsgruppe für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung, Antworten auf die Fragen der Arbeitsgruppe, 4 Bde, Bern (1970). Vgl. dazu SPJ. 1969, S. 11.
[9] NZ, 394, 28.8.70; Lb, 199, 28.8.70; BN, 361, 29./30.8.70. Zur Kritik vgl. Ostschw., 201, 29.8.70; NZ, 414, 8.9.70.
[10] NZ, 393, 28.8.70; Bund, 200, 28.8.70.
[11] Arbeitsgruppe für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung, Antworten auf die Fragen der Arbeltsgruppe, Bd 1, S. 505 ff., Bd 2, S. 313 f., Bd 3, S. 90 ff.
[12] NZZ, 398, 28.8.70.
[13] Vgl. die Skepsis in NZN, 200, 28.8.70; AZ, 198, 28.8.70; Lib., 273, 28.8.70; BN, 361, 29./30.8.70; JdG, 202, 31.8.70; NZ, 408, 6.9.70; anderseits das Engagement in Ostschw., 201, 29.8.70; NZZ, 401, 30.8.70.
[14] Helvetische Alternativen, Zürich 1971 (erschienen im November 1970).
[15] LEONHARD NEIDHART, Reform des Bundesstaates, Bern 1970.
[16] Vgl. unten, S. 63; ferner NZZ (sda), 141, 25.3.70; 461, 5.10.70; NZZ, 458, 2.10.70; dazu SPJ, 1968, S. 50; 1969, S. 10.