Année politique Suisse 1970 : Grundlagen der Staatsordnung / Rechtsordnung
Strafrecht
Für die
Revision des
Strafgesetzbuches, die von den beiden eidgenössischen Räten in sehr unterschiedlicher Weise behandelt worden war, zog sich das Differenzenbereinigungsverfahren bis zum Jahresende hin
[55]. Der Nationalrat, dessen Beschlüsse 1969 die Erziehungs- und Wiedereingliederungstendenz im Strafvollzug stärker zum Ausdruck gebracht hatten als diejenigen des Ständerates von 1967, konnte nur einen Teil seiner Abänderungen aufrechterhalten. So setzte er die Ermöglichung der sog. Haitifreiheit (Beschäftigung ausserhalb der Anstalt) durch, ferner den Verzicht auf die Einstellung in der bürgerlichen Ehrenfähigkeit als Nebenstrafe, allerdings mit dem Vorbehalt, dass ein Verurteilter amtsunfähig erklärt werden könne, sowie die Errichtung von Spezialanstalten für besonders schwer erziehbare Jugendliche (Therapieheime, Anstalten für Nacherziehung). In einzelnen Fällen stimmte der Nationalrat 1970 sogar noch reformfreundlicher als 1969, so etwa wenn er sich mit Erfolg gegen jede Einweisung von Jugendlichen unter 18 Jahren in gewöhnliche Strafanstalten wandte. Dagegen kam es bei der Festsetzung der maximalen Dauer für bedingte Freiheitsstrafen nur zu einem Kompromiss (18 Monate). Vollends siegreich blieb der Ständerat, als er darauf beharrte, dass Freiheitsentzug von weniger als drei Monaten weiterhin nicht nur als Haft, sondern auch als Gefängnis verhängt werden könne. Ausserdem überwies er ein Postulat, das als Kompensation für den Verzicht auf Einstellung in den bürgerlichen Ehren eine Verhinderung der Stimmabgabe von Anstaltsinsassen anstrebt
[56].
Die Methoden des
Strafvollzugs und der
Anstaltserziehung wurden in der Öffentlichkeit lebhaft diskutiert
[57]. Kritik richtete sich namentlich gegen die bernische Erziehungsanstalt Tessenberg
[58], was bei den bernischen Behörden ein gewisses Gefühl der Isoliertheit entstehen liess und sie veranlasste, mit dem Austritt Berns aus dem nordwest-zentralschweizerischen Konkordat über die Planung im Strafvollzugswesen zu drohen
[59]. Ein von privater Seite lanciertes Projekt, in Sevelen (SG) eine erste Anstalt für Nacherziehung zu errichten, stiess bei der sanktgallischen Regierung auf Vorbehalte
[60]. Der Bundesrat versuchte durch eine Revision der Subventionsverordnung die erzieherischen Tendenzen im Anstaltswesen zu unterstützen
[61]. Die Arbeitspflicht von administrativ Versorgten wurde Gegenstand einer Kontroverse, als das EVD die Kantone in einem Kreisschreiben zu deren Abschaffung aufforderte, da die Schweiz bereits 1940 ein entsprechendes Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation unterzeichnet habe. In Zürich wie in Bern spielte man den Ball an den Bund zurück, da auch das Schweizerische Zivilgesetzbuch die administrative Versorgung in Anstalten mit Arbeitszwang ermöglicht
[62].
[55] Sten. Bull. StR, 1970, S. 82 ff., 117 ff., 427 ff. u. 456; Sten. Bull. NR, 1970, S. 515 ff. u. 739 f. Die Schlussabstimmungen fanden 1970 noch nicht statt. Vgl. dazu SPJ, 1967, S. 18; 1969, S. 19.
[56] Postulat Munz (rad., TG) (Verhandl. B.vers., 1970, II, S. 43; BN, 247, 18.6.70).
[57] Vgl. vor allem die Studientagung im Gottlieb-Duttweiler-Institut in Rüschlikon (Ostschw., 285, 5.12.70; NZ, 569, 9.12.70; AZ, 292, 16.12.70; Bund, 295, 17.12.70); ferner NZZ, 579, 12.12.70 und die Dissertation von IRMA WEISS, Schweizerischer Straf- und Massnahmenvollzug der Gegenwart in der Perspektive moderner poenologischer Behandlungsmethoden, Zürich 1970.
[58] Vgl. PETER HOLENSTEIN und WERNER FRITSCHI, « ... wer einmal in der Winde frass ... », in Team, Juli 1970; Sonntags-Journal, 35, 29./30.8.70.
[59] Bund, 269, 17.11.70; 280, 30.11.70; 284, 4.12.70.
[60] NZZ. 422, 11.9.70; Tat, 224, 24.9.70; NZ, 490, 24.10.70.
[61] AS, 1970, S. 913 f.; NZZ (sda), 326, 17.7.70.
[62] NZZ (ada) 315, 10.7.70; Bund. 261, 8.11.70; 270, 18.11.70.
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