Année politique Suisse 1970 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
 
Parlament
Die Bemühungen um eine Verstärkung der Stellung des Parlaments wurden fortgesetzt. Die Diskussion bewegte sich dabei vermehrt um die grundsätzlichen Fragen, welche Aufgabe das Parlament überhaupt zu erfüllen habe und welches die Voraussetzungen für sein wirksames Funktionieren seien. Nach Prof. K. Eichenberger gibt es für die Bundesversammlung zwei Wege, den gegenwärtigen Zustand der Überforderung zu überwinden: entweder die Konzentration auf einen beschränkteren Aufgabenkreis, (Grundentscheide der Gesetzgebung, Wahl von Exekutiv- und Gerichtsorganen sowie Verwaltungskontrolle mit Einschluss des Budgetrechts) oder aber den Übergang zum Berufsparlament [18]. Eine Stärkung des Parlaments wurde freilich nicht nur gegenüber dem Druck der Verwaltung, sondern auch gegenüber dem Druck der Wirtschaftsinteressen für nötig befunden, so z.B. im Zusammenhang mit dem Zögern der eidgenössischen Räte, auf die Exportdepotvorlage einzutreten [19].
Bei den praktischen Reformversuchen stand das Verhältnis zu den Exekutivbehörden im Vordergrund. Es gelang, die parlamentarische Initiative, die darin besteht, dass ein Gesetzes- oder Beschlussentwurf nicht von der Exekutive, sondern von einem Mitglied oder einer Kommission eines der beiden Räte ausgearbeitet wird, im Geschäftsverkehrsgesetz zu regeln. Der Ständerat wandte sich freilich gegen die vom Nationalrat befürwortete Möglichkeit, dass eine Initiative, die vom Rat des Initianten abgelehnt worden ist, vom zweiten Rat wieder aufgenommen werden kann, und der Nationalrat gab nach [20]. Die noch unerprobte Institution geriet schon bald in eine Panne: in der Nationalratskommission, die sich mit einer gegen das Abhören von Telephongesprächen eidgenössischer Parlamentarier gerichteten Einzelinitiative zu befassen hatte, ergab sich das Bedürfnis, den vom Initianten formulierten Text abzuändern. Da eine solche Eventualität in der gesetzlichen Regelung nicht vorgesehen war, wandte sich die Kommission zunächst der ungeklärten Prozedurfrage zu [21]. Das Begehren nach einer Verselbständigung des Sekretariates der Bundesversammlung wurde weiter verfolgt. Der Bundesrat hatte zwar 1969 eine Revision von Artikel 105 der Bundesverfassung noch als verfrüht bezeichnet, doch die zuständige Nationalratskommission stellte in Form einer parlamentarischen Initiative den Antrag, das Sekretariat der Bundesversammlung mit seinen Hilfsdiensten aus der Bundeskanzlei herauszulösen und ihm eine aus Parlamentariern gebildete Verwaltungskommission als Aufsichtsorgan beizugeben. Ausserdem sollten die parlamentarischen Kommissionen grundsätzlich mit parlamentseigenen Sekretären ausgestattet werden [22]. Dass das Parlament auch für seine einzelnen Mitglieder eine möglichst grosse Bewegungsfreiheit bei der Ausübung ihrer Kontrollfunktion beanspruchte, bekundete es mit der Ablehnung eines Gesuchs der Militärverwaltung um Aufhebung der Immunität Nationalrat Hubachers (soz., BS), dessen Verhalten in der sog. « Florida »-Affäre strafgerichtlich untersucht werden sollte. Hubacher erhielt zwar wegen der Preisgabe eines vertraulichen Dokuments vor dem Plenum des Rates einen Tadel, doch wurde in der Angelegenheit dem militärischen Geheimhaltungsinteresse kein Vorrang vor dem parlamentarischen Informationsinteresse eingeräumt. Das Missbehagen über die Kontrolle des Telephonverkehrs von Parlamentariern fand in der bereits erwähnten Einzelinitiative Ausdruck [23]. Pressestimmen riefen anderseits nach einer klaren Definition der parlamentarischen Immunität [24].
Zur Stärkung des Parlaments gegenüber den wirtschaftlichen Interessenverbänden nahm die Konferenz der Fraktionspräsidenten einen Vorstoss aus dem Jahre 1964 wieder auf und beantragte in einer weiteren parlamentarischen Initiative die Ausrichtung von Bundesbeiträgen für die Finanzierung der Fraktionssekretariate und zugleich die Verankerung der Fraktionen im Geschäftsverkehrsgesetz. Es wurde freilich betont, dass es sich dabei nicht um eine Parteiensubventionierung, sondern um die Unterstützung von Parlamentsorganen handle [25]. Von Bedeutung für das Verhältnis zwischen Parteibindung und Verbandsbindung ist auch das Wahlsystem. Für die Bestellung der Volkskammer verlangte Nationalrat Binder (k.-chr., AG) eine Aufteilung der grossen Wahlkreise und die Einführung von Elementen des Mehrheitswahlverfahrens. Eine solche Reform sollte in erster Linie das Gewicht der verantwortlichen Persönlichkeit verstärken, der Parteienzersplitterung entgegenwirken und die Bildung einer richtigen Opposition erleichtern; auf den Einfluss der Verbände nahm Binder bloss andeutungsweise Bezug [26]. Bei der Bestellung der Ständekammer spielt die Persönlichkeit, namentlich dort, wo eine Volkswahl stattfindet, eine grössere Rolle. Die Initiativbewegungen für eine Ausdehnung des Volkswahlprinzips auf weitere Kantone konnten Erfolge verzeichnen: in Freiburg trafen die Stimmberechtigten einen positiven Grundsatzentscheid, und in Neuenburg einigte sich der Grosse Rat auf einen Gegenentwurf, der die Volkswahl befürwortete; die Frage, ob eine solche nach dem bisher in allen Kantonen angewandten Majorz oder nach dem von den Initianten gewünschten Proporzverfahren vorzunehmen sei, wurde der Gesetzgebung vorbehalten [27]. Von Vorschlägen für eine Ständeratsreform, die über eine Änderung des Wahlsystems hinausginge, wird in anderem Zusammenhang die Rede sein [28]. Im Sinne der Proporzgerechtigkeit lag es, wenn für 1971 erstmals ein Vertreter des Landesrings, der Zürcher Vontobel, zum Vizepräsidenten des Nationalrats gewählt wurde [29].
Als Antwort auf das wiederholt aus dem Parlament vorgetragene Begehren nach einer Regelung der vorparlamentarischen Phase der Gesetzgebung erliess der Bundesrat im Mai interne Richtlinien, die allerdings mehr den Charakter einer Kodifikation der üblich gewordenen Praxis als denjenigen einer Reform trugen. Neuerungen brachten sie mit der grundsätzlichen Feststellung, dass die administrativen Unterlagen sowie die Ergebnisse des vorparlamentarischen Verfahrens in der Regel nicht vertraulich zu behandeln seien; dem zuständigen Departement blieb aber der Entscheid über die Publizität im Einzelfall vorbehalten. Ausserdem bestimmten sie, dass Kantone und Parteien bei allen Verfassungsänderungen sowie in Gesetzgebungsfragen von besonderer politischer Tragweite anzuhören seien, die Kantone überdies bei der Ausarbeitung von Verordnungen, die ihre Rechte oder Pflichten berühren. Für die als « zuständige Organisationen » bezeichneten Verbände wurde auf das Bundesrecht verwiesen; auf der Verordnungsstufe sollte die Mitwirkung beim Vollzug zur Konsultation berechtigen. Die Regelung war aber elastisch gehalten [30]. Kritische Stimmen hielten sie zur Aufwertung der Position des Parlaments und der Parteien nicht für ausreichend [31]. In anderer Richtung zielte ein parlamentarischer Vorstoss, der die Tendenz kritisierte, in den Gesetzen eine grosse Zahl von Einzelheiten zu regeln, weil dadurch die Rechtsanwendung daran gehindert werde, der Vielfalt des Lebens Rechnung zu tragen [32].
 
[18] KURT EICHENBERGER, « Zwei Wege stehen offen », in Politische Rundschau, 49/1970, Nr. 1, S. 24 ff. Vgl. auch die übrigen Beiträge dieser Nummer, ferner ANDREAS B[.UM, Ist unser Parlament überfordert? Bern 1970.
[19] NZZ, 135, 22.3.70; NBZ, 68, 23.3.70; Bund, 146, 26.6.70. Vgl. unten, S. 65 f.
[20] Verhandlungen im StR am 3.3. (Sten. Bull. StR, 1970, S. 4 ff.) und im NR am 4.6. (Sten. Bull. NR, 1970, S. 317 ff.); definitiver Text in AS, 1970, S. 1253 ff. Vgl. dazu SPJ, 1969, S. 24 f.
[21] NZ, 537, 20.11.70; NZZ, 543, 21.11.70.
[22] NZZ, 24, 16.1.70; 66, 10.2.70; 537, 18.11.70; NZZ (sda), 513, 4.11.70. Es wurde neben einer Revision von Art. 105 auch ein neuer Art. 94 bis vorgesehen. Vgl. SPJ, 1969, S. 24.
[23] Verhandlungen im NR am 18.6. (Sten. Bull. NR, 1970, S. 410 ff.), im StR am 21.9. (Sten. Bull. StR, 1970, S. 249 ff.). Vgl. auch NZZ. 158, 7.4.70. Die Initiative Gerwig (soz., BS) verlangte ein Verbot des Abhörens von Gesprächen eidgenössischer Parlaments-, Regierunge- und Gerichtsmitglieder (NZ, 273, 19.6.70). Zur « Florida »-Affäre vgl. SPJ, 1969, S. 23 f. Das militärgerichtliche Verfahren gegen den 1969 vorübergehend verhafteten Bundesbeamten E. Varrone wurde im Dezember eingestellt; dass eine eigentliche Rehabilitation ausblieb, erregte Kritik (NZZ, 563, 3.12.70; NZ, 561, 4.12.70; AZ, 285, 8.12.70).
[24] NZZ, 229, 21.5.70; Vat., 117, 23.5.70; Tat, 119, 23.5.70.
[25] BBI, 1970, II, S. 1498 ff. Vgl. auch Lb, 105, 9.5.70; NZZ (sda), 565, 4.12.70. Ende 1970 verfügte erst die christlichdemokratische Fraktion über einen hauptamtlichen Sekretär.
[26] Motion Binder, vom NR am 3.6. als Postulat überwiesen (NZZ, 252, 4.6.70; Bund, 127, 4.6.70; Vat., 126, 4.6.70; Lb, 143, 24.6.70).
[27] Freiburg: Annahme am 7.6. mit 22 790 : 8166 Stimmen; der Grosse Rat verzichtete auf eine Stellungnahme (La Gruyère, 62, 2.6.70; TLM, 154, 3.6.70; Lib., 203, 8.6.70). Für Neuenburg vgl. PS, 228, 6.10.70; NZZ, 504, 29.10.70; die Vorlage wurde am 7.2.71 vom Volk genehmigt (TLM, 39, 8.2.71). Vgl. auch SPJ, 1969, S. 26.
[28] Vgl. unten, S. 24 f.
[29] JdG, 216, 17.9.70; 281, 2.12.70; NZN, 283, 3.12.70.
[30] BBI, 1970, I, S. 993 ff. Vgl. dazu SPJ. 1965, in SJPW, 6/1966, S. 143 f.; SPJ, 1966, S. 11; 1969, S. 25. Das am 18.6. vom NR überwiesene Postulat Fischer (rad., BE) wurde durch die Richtlinien teilweise erfüllt (NZZ, 279, 19.6.70). Zur angewandten Praxis und ihrer Problematik vgl. WALTER BUSER, « Le rôle de l'administration et des groupes dans le processus de décision en Suisse », in SJPW, 9/1969, S. 121 ff.
[31] NZZ, 233, 24.5.70; TAW, 21, 26.5.70; NZ, 240, 31.5.70.
[32] Postulat Schalcher (dem.-ev., ZH), vom NR am 14.12. überwiesen (NZZ, 584,15.12.70).