Année politique Suisse 1970 : Wirtschaft / Allgemeine Wirtschaftspolitik
 
Wirtschaftsordnung
Die schweizerische Wirtschaftsordnung war 1970 einer intensivierten Diskussion ausgesetzt. Eine Reihe von grundsätzlichen wirtschafts- und finanzpolitisch relevanten Ausmarchungen prägten zu einem wesentlichen Teil das politische Bild des Jahres. Durch die Auséinandersetzung um die Überfremdungsinitiative, die Forderung nach einem Sozialrecht auf Wohnung, das Scheitern der kleinen Finanzreform, durch den Verzicht auf das Exportdepot, das Fehlen einer wirksamen Konjunkturpolitik zur Bekämpfung der massiven Teuerung, durch den Beginn der Verhandlungen mit der EWG und durch den weiter anhaltenden wirtschaftlichen Konzentrationsprozess wurden verschiedene ordnungspolitisch bedeutsame Fragen aufgeworfen [1]. Die ungehemmte Konjunkturentwicklung gab Anlass zu kritischen Bemerkungen gegenüber einem allzu grossen Gruppenegoismus der massgebenden Verbände. Es wurde ein verstärktes Unbehagen und eine Entfremdung der Bevölkerung gegenüber der Arbeit im Parlament festgestellt und die Befürchtung ausgesprochen, die demokratischen Einrichtungen würden von der Wirtschaftspolitik überfordert [2]. Am Schweizerischen Juristentag machten namhafte Rechtswissenschafter geltend, die Wirtschaftsartikel seien, gemessen an den Anforderungen einer modernen Gesamtwirtschaftspolitik (zu der auch die Sozialpolitik zu rechnen sei), als ungenügend zu betrachten [3].
Gerade auch bürgerliche Presseorgane hoben hervor, dass die Konjunkturpolitik in der theoretischen Konzeption der sozialen Marktwirtschaft eine zentrale Stellung einnehme und dass die durch eine überholte « laissez-faire »-Politik mitverursachte galoppierende Teuerung für staatspolitisch weit gefährlicher zu halten sei als ein sachgerechter Staatsinterventionismus. Anstatt die Problematik auf einen Gegensatz zwischen Sozialismus und Liberalismus zu reduzieren, müsse man eine bessere Partnerschaft zwischen Staat und Wirtschaft anstreben [4]. Verschiedene Stimmen beklagten, dass der gesunde Wettbewerb, Seele und Motor der freien Marktwirtschaft, zu einer hysterischen Bewegung geworden sei, die vom Mythos eines unbeschränkten Wachstums beherrscht werde. Auch Bundesräte zeigten sich ob der Entwicklung besorgt und gaben zu bedenken, dass materieller Wohlstand nicht mit Wohlfahrt identisch sei [5].
Diese grundsätzliche Kritik und die vor allem im Abstimmungskampf um die Überfremdungsinitiative deutlich gewordenen Ansätze zu einer Industriefeindlichkeit, in breiten Schichten des Volkes [6] wurden von führenden Unternehmerpersönlichkeiten nicht leicht genommen. Zunächst wurde mit Nachdruck in Erinnerung gerufen, dass es die Industrie gewesen sei, die unserem Land den hohen Lebensstandard gebracht habe, dass es deshalb nicht angehe, diese zum Prügelknaben und zum Sündenbock für alle Mängel und Misstände zu stempeln und aus Sattheit und Überfluss die unternehmerische Leistung herabzumindern [7]. Die Einsicht, dass gerade die Erfolge der Industrie auch einen Quell der Sorgen bilden, führte sodann zu einer Selbstbesinnung, die beim Pressetag der schweizerischen Maschinenindustrie am deutlichsten zum Ausdruck kam. Namentlich mit Blick auf negative Folgen des Wachstums, insbesondere Immissionen, wurde die grösser werdende soziale Verpflichtung und Gesamtverantwortung des Unternehmers angesichts der zunehmenden Verflechtung zwischen Wirtschaft und Staat anerkannt. Im Zusammenhang mit einer wissenschaftlich zwar nicht unbestrittenen Presseanalyse über die «Industriefeindlichkeit» fand deshalb das Postulat einer verbesserten Wirtschaftsinformation weitgehende Zustimmung [8].
 
[1] Die einzelnen Fragen werden zum grössten Teil in diesem Kapitel 4 behandelt; vgl. zudem unten, S. 128 ff. (Oberfremdungsinitiative) und S. 118 ff. (Recht auf Wohnung).
[2] TdG, 20, 24./25.1.70; Bund, 54, 6.3.70; 55, 8.3.70; 63, 17.3.70; 135, 14.6.70; 146, 26.6.70; NZZ, 110, 7.3.70; 283, 22.6.70; 291, 26.6.70; 304, 4.7.70; 471, 10.10.70: 472, 11.10.70: 598, 23.12.70; NZ, 258, 10.6.70; Lb, 146, 27.6.70; GdL, 301, 26./27.12.70.
[3] NZZ, 452, 29.9.70.
[4] AZ, 11, 16.1.70: BN, 44, 30.1.70; 83, 26.2.70; Bund, 54, 6.3.70; 95, 26.4.70; 171, 26.7.70; Vat., 109, 13.5.70; NZZ, 87, 22.2.70; 166, 12.4.70; 257, 7.6.70; 448, 27.9.70; JdG, 243, 19.10.70; Tat, 274, 21.11.70; vgl. auch eine Rede BR Bruggers in Documenta Helvetica, 1970, Heft 2, S. 59 ff.
[5] Bund, 77, 5.4.70; NZZ, 166, 12.4.70; 178, 19.4.70; 293, 28.6.70; 351, 31.7.70; 389, 23.8.70; 600, 25.12.70; Lb, 152, 4.7.70; 154, 7.7.70; Bund, 261, 8.11.70; Sonntags-Journal, 45, 7./8.11.70; Vat., 283, 5.12.70; BR Celio in NZZ, 544, 22.11.70, und Lb, 273, 23.11.70; BR Brugger in Documenta Helvetica, 1970, Heft 7, S. 49 ff.; GdL, 279, 30.11.70.
[6] NZZ. 6, 6.1.70; 293, 28.6.70; Lib., 183, 13.5.70; JdG, 113, 19.5.70; 131, 9.6.70: Ostschw., 195, 22.8.70; Mitteilungsblatt des Delegierten für Konjunkturfragen, 26/1970, S. 55 ff.
[7] M. Schmidheiny vor der Generalversammlung der BBC in NZZ, 324, 16.7.70; Generalversammlung der von Roll (NZ, 217, 16.5.70); vgl. auch Bund, 37, 15.2.70; JdG, 136, 15.6.70; NZZ, 353, 2.8.70.
[8] Zum Pressetag der Maschinenindustrie mit einem Referat von K. Hess vgl. NZZ, 543, 21.11.70; NZN, 273, 21.11.70; Lib., 44, 20.11.70; Bund, 272, 20.11.70; 273, 22.11.70; 274, 23.11.70; NBZ, 273, 23.11.70; NZ, 539, 22.11.70; 551, 29.11.70; Ostschw., 273, 21.11.70; GdL, 272, 21./22.11.70; Präsidialansprache von J. E. Haefely vor den Arbeitgeberorganisationen in Schweizerische Arbeitgeber-Zeitung, 27, 2.7.70; vgl. auch NZZ, 314, 10.7.70; Vortrag von E. Junod vor der Generalversammlung der Schweizerischen Gesellschaft für Chemische Industrie in BN, 249, 19.6.70; NZZ, 279, 19.6.70; weitere Stimmen in NZZ, 257, 7.6.70; GdL, 142, 22.6.70; Lib., 233, 13.7.70; NZN, 174, 29.7.70; Lb, 205, 4.9.70; NZZ, 532, 15.11.70; 578, 11.12.70; Gründung eines Aktionskomitees für die Erziehung zur Wirtschaft, NZZ (sda), 263, 10.6.70.