Année politique Suisse 1970 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen
 
Jugend
Eine grundlegende Bildungsreform und die daraus resultierende Selbstverwirklichung jedes Individuums könnte dazu beitragen, das Jugendproblem zu entschärfen. Beunruhigt durch eine zunehmend revolutionäre, pazifistische und antimilitaristische Haltung einer jugendlichen Minderheit, ersuchte Nationalrat Meyer (rad., LU) den Bundesrat in einem Postulat, Massnahmen zur Verstärkung der positiven Beziehungen zwischen Jugend und Staat zu prüfen. Bundespräsident Tschudi sprach sich für eine angemessene Vertretung der Jugend in den Behörden und eine möglichst grosszügige Berücksichtigung ihrer Anregungen bei der Totalrevision der Bundesverfassung aus [63]. Die Unrast der Jugend muss als Krise unserer Konsumgesellschaft gesehen werden, wobei die sich ausbreitende Rauschgiftwelle, die zu Parlamentsdebatten in mehreren Kantonen führte, und die zunehmende Jugendkriminalität als Symptome zu werten sind [64].
Die in verschiedenen Städten wirksamen Bestrebungen um die Schaffung autonomer Jugendzentren nahmen in Zürich dramatische Formen an. Nachdem der Stadtrat der Zürcher Jugend den Lindenhof bunker mit gewissen Auflagen betreffend Schliessungszeit, Zulassung Jugendlicher unter 16 Jahren und Alkoholkonsum überlassen hatte, ergaben sich bald Schwierigkeiten, da die Leiter des Zentrums die Befolgung des Reglements nicht durchzusetzen vermochten. Das Problem bestand darin, dass der Bunker als vollkommen ungeeignetes Lokal nicht eine politisch und kulturell interessierte Jugend, sondern ein passiv-konsumierendes Publikum anzog. Der Stadtrat verfügte, als seine ultimativen Forderungen mit der Ausrufung der « Autonomen Republik Bunker » beantwortet worden waren, die Schliessung des Jugendzentrums. Auch in Bern und insbesondere in Biel kam es in der gleichen Frage zu Schwierigkeiten [65]. Ein kleiner Schritt auf dem Weg zu einer eigentlichen Jugendpolitik wurde mit der Annahme des Verfassungsartikels über die Förderung von Turnen und Sport in der Volksabstimmung vom 27. September getan. Der Vorlage, die von allen Parteien ausser den Liberalsozialisten unterstützt wurde, erwuchs eine gewisse Opposition in landwirtschaftlichen Gebirgskantonen (Appenzell Innerrhoden, Schwyz, Obwalden) und in der welschen Schweiz, wo einmal mehr das Gespenst des eidgenössischen Schulvogts heraufbeschworen wurde [66]. Der Verfassungsartikel räumt dem Bund insbesondere die Kompetenz ein, Schulturnen für Knaben und Mädchen obligatorisch zu erklären und die Ausübung zahlreicher Sportarten im Rahmen der Aktion Jugend und Sport durch Subventionen zu fördern.
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P.E. / R.G.
 
[63] Vgl. oben, S. 11 u. 14 f. Verhandl. B.vers., 1970, I, S. 30 f.; BN, 398, 23.9.70.
[64] Zum Rauschgiftproblem und Interpellationen in den kantonalen Parlamenten von Aargau, Freiburg und Genf und im Gemeinderat der Stadt Zürich vgl. GdL, 12, 16.1.70; 159, 11./12.7.70; JdG, 12, 16.1.70; 25, 31.1./1.2.70; 34, 11.2.70; TdG, 208, 5./6.9.70; TLM, 179, 28.6.70; La Gruyère, 135, 21.11.70; Lib., 49, 26.11.70; NZN, 78, 6.4.70; NZZ, 257, 7.6.70. 1970 mussten 826 Strafverfolgungen wegen Rauschgiftdelikten aufgenommen werden, wobei nur 22 Fälle Leute betrafen, die über 30 Jahre alt waren. JdG, 25, 1.2.71. Zur Jugendkriminalität vgl. NZ, 48, 30.1.70.
[65] Zu Zürich vgl. NZZ, 315, 10.7.70; 432, 17.9.70; 509, 2.11.70; 526, 11.11.70; 528, 12.11.70; 552, 26.11.70; 597, 598, 23.12.70; NZ, 505, 2.11.70; 599, 29.12.70; NZN, 256, 2.11.70; AZ, 254, 2.11.70; 264, 13.11.70; 268, 18.11.70; 271, 21.11.70; 291, 15.12.70; 296, 21.12.70; 298, 23.12.70; 301, 29.12.70; Lb, 299, 23.12.70. Zu Bern vgl. Bund, 133, 11.6.70; Tw, 168, 18./19.7.70; NZ, 266, 15.6.70. Zu Biel vgl. NZ, 238, 29.5.70; NZZ, 248, 2.6.70; 282, 22.6.70; AZ, 133, 13.6.70; Tw, 136, 15.6.70; 139, 18.6.70; Bund, 139, 18.6.70.
[66] Vgl. SPJ, 1969, S. 131. Der Verfassungsartikel wurde vom NR in der Märzsession einstimmig angenommen: Sten. Bull. NR, 1970, S. 18 ff. Das Resultat der Volksabstimmung lautete 524 361 Ja : 178 283 Nein. Alle Stände nahmen an (BBI, 1970, II, S. 1520). Vgl. NZZ, 450, 28.9.70; Lib., 295, 23.9.70. Über die Ausführungsgesetzgebung ist zurzeit ein Vernehmlassungsverfahren im Gange.