Année politique Suisse 1970 : Bildung, Kultur und Medien / Bildung und Forschung
Bildungspolitik
Das Jahr 1970, von der UNESCO zum internationalen Jahr der Erziehung proklamiert, brachte in der Bildungspolitik wenige grundlegend neue Entscheide offizieller Organe. Es kann ein Jahr der Atempause genannt werden, das erlauben sollte, vor der Einführung wichtiger Neuerungen die Möglichkeiten des kooperativen Föderalismus auszuschöpfen. Dass diese beschränkt sind, wurde nicht nur in einer heftigen Kritik des Verbandes der Schweizerischen Studentenschaften (VSS) festgestellt
[1], sondern auch in Vorbehalten und Bedenken, die von der Schweizerischen Hochschulkonferenz (SHK) und der ihr beigeordneten Fachstelle für Hochschulbauten angemeldet wurden
[2]. Der VSS warf den zahlreichen Gremien, die für die Bildungspolitik verantwortlich sind, vor, ohne wissenschaftlich fundierte Unterlagen und unkoordiniert zu agieren, und er forderte primär die Erarbeitung wissenschaftlicher Grundlagen als Voraussetzung für politische Entscheide. Gleichzeitig wollte er sich mit weiteren interessierten Kreisen für die Verankerung des Rechts auf Bildung und Weiterbildung in der Bundesverfassung einsetzen
[3]. In seiner Entgegnung auf die studentischen Angriffe räumte der Wissenschaftsrat ein, dass die Grundlagen für bildungspolitische Entscheide noch weitgehend fehlten. Die Schuld dafür gab er wegen der verzögerten .Schaffung einer Koordinationsstelle für Bildungsforschung den Kantonen
[4]. Das EDI kündigte in der Folge für den Spätsommer 1971 Vorschläge über die grundsätzliche Neuordnung des gesamten Bildungswesens an, die eine Revision des Schulartikels der Bundesverfassung erfordern würden, wobei gleichzeitig eine Verfassungsgrundlage zur Förderung der Erwachsenenbildung geschaffen werden sollte
[5].
Auffallend war eine zunehmende Polarisierung der Öffentlichkeit in ihrer Stellungnahme zu bildungspolitischen Fragen. Einer eher abwartenden oder gar bildungsfeindlichen schweigenden Mehrheit
[6] stand eine aktive interessierte Minderheit gegenüber, die bestrebt war, der Frage einer allen zugänglichen Ausbildung ihren Platz als Politikum eisten Ranges zuzuweisen
[7]. Ausgehend von den Forschungsergebnissen der modernen Psychologie, wonach intellektuelle Fähigkeiten weitgehend erlernbar sind, wurde der Ruf nach einer möglichst frühzeitigen Erfassung der Kinder durch Vorschulkurse laut. Durch gezielte Schulreformen — Linkskreise denken dabei an die Erprobung einer im westlichen und östlichen Ausland eingeführten Gesamtschule — sollten die Voraussetzungen geschaffen werden, um jedem Schweizer die für seine Begabung optimale Ausbildung zu gewährleisten
[8].
[1] Vgl. AZ, 247, 24.10.70; ferner VSS-Hearing über Bildungspolitik in Aarau in NZ, 76, 16.2.70; 83, 20.2.70; NZZ. 76, 16.2.70.
[2] Vgl Schweizerische Hochschulkonferenz (SHK), Jahresbericht 1969, S. 47 1f.; Fachstelle für Hochschulbauten der SHK, Überlegungen zur Standortbestimmung der Fachstelle und ihren gegenwärtigen und zukünftigen Aufgaben, o.O. 1970. Vgl. auch unten, S. 154 f.
[3] Vgl. NZ, 157, 8.4.70; 266, 15.6.70; 269, 17.6.70; 485, 21.10.70; AZ, 286, 9.12.70; NZZ, 270, 15.6.70; 271, 15.6.70; 532, 15.11.70.
[4] Träger der Koordinationsstelle sind die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren, der Kanton Aargau und die Stadt Aarau. Am 25. November hielt der Leitende Ausschuss und im Januar 1971 die Beratende Kommission ihre konstituierende Sitzung ab. Zum Interimssekretär wurde P. Müller, der erste Sekretär der Erziehungsdirektion des Kantons Aargau, ernannt (Mitteilungen des Interimssekretärs).
[5] Vgl. AZ, 247, 24.10.70; NZZ, 31, 20.1.71; Sonntags-Journal, 3, 17./18.1.70; NZ, 45, 28.1.70.
[6] Die Universität Zürich arbeitet gegenwärtig an einer interdisziplinären, vom Kanton subventionierten Untersuchung über Bildungsfeindlichkeit, da Schul- und Universitätskredite in Volksabstimmungen zum Teil nur knapp angenommen oder gar verworfen worden sind. Vgl. NZZ, 554, 27.11.70; 596, 22.12.70.
[7] Vgl. NZZ, 441, 23.9.70.
[8] Vgl. NZZ, 270, 15.6.70; 271, 15.6.70; 604, 29.12.70; Lb, 194, 22.8.70; NZ, 135, 23.3.70; 197, 3.5.70; 553, 30.11.70; Bund, 246, 21.10.70; AZ, 286, 9.12.70; 291, 15.12.70; Lib., 69, 19./20.12.70. Die Gegner einer Gesamtschule gründeten die Schweizerische Gesellschaft für Bildungs- und Erziehungsfragen. Vgl. Tat, 291, 11.12.70.
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