Année politique Suisse 1970 : Bildung, Kultur und Medien / Bildung und Forschung
 
Berufsbildung
Aus wiederholten Forderungen der interessierten Kreise für eine Aufwertung der Berufsschulen sprach die Sorge, dass diese Bildungsstufe, die 70-80 % der Jugend erfasst, allzu stark in den Schatten der Hochschulförderung geraten könnte. Der Bundesrat schenkte diesen Bedenken seine volle Aufmerksamkeit, und im November hielt die von Bundesrat Schaffner 1969 in Aussicht gestellte Kommission zur Ausarbeitung einer Gesamtkonzeption der Berufsbildung ihre konstituierende Sitzung ab [28]. Ein weiterer Auftrag war mit der Überweisung eines Postulats Tschumi (BGB, BE) gegeben, das eine Revision der Bestimmungen des eidgenössischen Berufsbildungsgesetzes über die Subventionierung von Berufsschulen verlangte [29]: Das BIGA erliess im Sommer eine Wegleitung für Berufsmittelschulen. Diese werden in drei Abteilungen, eine allgemeine, eine technische und eine gestalterische, aufgegliedert, und der Unterricht findet wöchentlich an einem zusätzlichen Schultag in obligatorischen Kernfächern (Muttersprache, Fremdsprache und Geschichte der neuesten Zeit) und zahlreichen Wahlfächern statt. Die Aufnahme erfolgt auf Grund von Prüfungen und setzt das Einverständnis des Lehrmeisters voraus [30]. Von Arbeitgeberkreisen wurde diese Wegleitung zustimmend aufgenommen, da darin die Forderungen des Gewerbeverbandes weitgehend berücksichtigt worden waren [31]. In der Folge wurden in Zürich, Winterthur und Wetzikon Berufsmittelschulen eröffnet, während die Kantone St. Gallen, Solothurn und Wallis Vorbereitungen für die Aufnahme des Unterrichts im Jahre 1971 trafen [32].
Eine Reform des Berufsbildungswesens hängt weitgehend vom Ausbildungsstand der Lehrkräfte ab. An einer Arbeitstagung des Schweizerischen Verbandes für gewerblichen Unterricht und der Schweizerischen Direktorenkonferenz gewerblicher Berufs- und Fachschulen wurde in einer Resolution verlangt, dass ein zentrales Institut für Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte und ein Forschungszentrum für Berufspädagogik und Berufsforschung geschaffen werde. Eine Motion Renschler (soz., ZH) lud den Bundesrat ein, diese Forderungen möglichst rasch zu verwirklichen [33]. Einzelne Missstände in der Lehrlingsausbildung — der Fall von Radioelektrikerlehrlingen in Basel, die sich zusammenschlossen und ihre Ausbildung einer kritischen Prüfung unterzogen, erregte Aufsehen — führten zum Ruf nach einem Lehrlingsstatut, das nach Ansicht des SGB ein Mitbestimmungsrecht der Lehrlinge enthalten sollte [34].
Beim Bau von Berufsschulen machte die interkantonale Zusammenarbeit weitere Fortschritte. Im Mai unterzeichneten vier Kantone eine Vereinbarung über den Bau und den Unterhalt des interkantonalen Technikums Rapperswil [35], und in Luzern stimmte das Parlament der Eröffnung einer Höheren Wirtschaftsund Verwaltungsschule, der vierten neben Basel, Bern und Zürich, zu [36]. Die Expertenkommission für berufliche Ausbildung in der Landwirtschaft legte zwölf Thesen vor, die eine Intensivierung der Ausbildung und eine ständige Weiterbildung vorsehen [37]. Im Herbst fand die Eröffnung eines Gartenbautechnikums der Westschweiz in Châtelaine (GE) statt [38].
 
[28] Vgl. SPJ, 1969, S. 140 f.; Schweizerische Gewerbe-Zeitung, 50, 11.12.70; NZZ, 551, 26.11.70. Präsident der Kommission ist Botschafter A. Grübel, Direktor des BIGA.
[29] Verhandl. B.vers., 1970, II, S. 38.
[30] Vgl. NZZ, 299, 1.7.70; Bund, 150, 1.7.70; GdL, 150, 1.7.70.
[31] Vgl. Schweizerische Gewerbe-Zeitung, 8, 20.2.70; 35, 28.8.70; Gewerbliche Rundschau, 15/1970, H. 4, Berufsbildungsbericht des SGV, 1. Teil.
[32] Vgl. zu ZH Tat, 40, 17.2.70; NZZ, 263, 10.6.70. Zu SO NZZ, 514, 4.11.70. Zu SG Ostschw., 263, 10.11.70. Zu VS NZZ, 343, 27.7.70. Im Freiburger Grossen Rat wurde in einer Motion die Einrichtung von Berufsmittelschulen verlangt; vgl. La Gruyère, 140, 3.12.70.
[33] Vgl. NZ, 252, 7.6.70; 254, 8.6.70; NZZ, 261, 9.6.70; TdG, 131, 8.6.70; Verhandl. B.vers., 1970, 11, S. 33. Eine Motion Fischer (rad., BE) verlangte die Einrichtung einer gesamtschweizerischen Institution für Gewerbelehrerausbildung mit Lehranstalten in den Sprachgebieten. Vgl. Verhandl. B.vers., 1970, 1I, S. 25. Die Bildungsforschungskommission des SGB forderte in einer Eingabe an das BIGA ein Berufsforschungsinstitut. Vgl. NZZ, 555, 28.11.70. Ein Postulat Rohner (k.-chr., BE) sprach sich für den Ausbau der Statistik über die Berufsausbildung als Planungsgrundlage aus. Vgl. Verhandl. B.vers., 1970, I1, S. 34.
[34] Vgl. NZ, 483, 20.10.70; 492, 27.10.70; 535, 19.11.70; 538, 21.11.70; 573, 11.12.70; 596, 28.12.70; AZ, 243, 20.10.70; 268, 18.11.70; PS, 241, 21.10.70. Eine liberale Motion ersuchte den Grossen Rat von Genf, eine Standesinitiative für ein Lehrlingsstatut zu ergreifen. Vgl. JdG, 122, 29.5.70.
[35] Es handelte sich um die Kantone Zürich, Schwyz, Glarus und St. Gallen. Vgl. Ostschw., 115, 21.5.70; NZN, 115, 21.5.70; NZZ, 228, 21.5.70.
[36] Vgl. Vat., 240, 27.10.70.
[37] Vgl. oben, S. 92; NZZ, 18, 13.1.71.
[38] Vgl. JdG, 128, 5.6.70.