Année politique Suisse 1970 : Bildung, Kultur und Medien / Kultur, Sprache, Kirchen
 
Kulturpolitik
In der Kulturpolitik übte der Bund weiterhin grosse Zurückhaltung; das Schwergewicht der Aktivität lag bei Gemeinden und Kantonen. Wohl . konstituierte sich die eidgenössische Expertenkommission für Fragen der schweizerischen Kulturpolitik (Kommission Clottu); von ihrer Tätigkeit drang indessen wenig an die Öffentlichkeit [1]. Durch von den eidgenössischen Räten bewilligte Subventionserhöhungen an Pro Helvetia und an die Stiftung Schweizer Volksbibliothek unterstrich der Bund sein Interesse für kulturelle Belange [2]. Im Frühling konnte dem Publikum ein Legat von Oskar Reinhart an die Eidgenossenschaft zugänglich gemacht werden: die Sammlung am Römerholz, die Meisterwerke europäischer Malerei im Privathaus des Kunstmäzens zeigt [3].
Die Frage nach der Stellung der Kulturschaffenden und nach der Funktion des Theaters in der modernen Gesellschaft rief Diskussionen auf gesamtschweizerischer Ebene hervor. Eine Auseinandersetzung über die Frage, ob sich der einzelne Schriftsteller wie auch seine Organisation politisch engagieren müsse, löste im Schweizerischen Schriftstellerverband eine Krise aus, die zur Demission von 22 Mitgliedern (darunter Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch) führte. Eine Minderheit, welche die Frage bejahte, fühlte sich durch den Verbandspräsidenten wegen seiner aktiven Mitarbeit an der französischen Fassung des Zivilverteidigungsbuchs nicht mehr repräsentiert [4]. Zahlreiche Schwierigkeiten an städtischen Bühnen, insbesondere der zunehmende Besucherschwund, riefen nach einer Besinnung auf die Aufgaben modernen Theaters. Eine Tagung von Sachverständigen im Stapferhaus sprach den Wunsch aus, dass Pro Helvetia die Organisation einer permanenten Theaterkonferenz übernehmen solle [5].
Mit der Inkraftsetzung des revidierten Filmgesetzes war es erstmals möglich, Bundesbeiträge an Spielfilme auszurichten. Dabei gab die Auszeichnung des Films « Krawall » zu einer Kritik im Nationalrat Anlass. Der Bundesrat befürwortete die Förderungswürdigkeit auch von Filmen, die die staatliche und gesellschaftliche Ordnung zur Diskussion stellen [6]. Vorstösse, die sich mit einer weitergehenden Filmförderung befassten, überwies der Bundesrat der Kommission Clottu zur Prüfung [7]. In der Diskussion um eine Aufhebung der Filmzensur wirkte ein Bundesgerichtsentscheid richtungweisend. Er betraf den Kanton Bern, der zwar keine Filmzensur kennt, in dem jedoch das Obergericht den schwedischen Sexfilm «Ich bin neugierig» aufgrund einer Strafklage verboten hatte; das Bundesgericht gab den beanstandeten Streifen zur Vorführung frei [8]. Der aargauische Regierungsrat hob die Verordnung über die Vorführung von Filmen und damit die Filmzensur formell auf, und die Zürcher stimmten dem neuen Filmgesetz, das als Gegenvorschlag zu einer Initiative gegen die Filmzensur ausgearbeitet worden war, deutlich zu. Der Luzerner Grosse Rat hiess ein neues Lichtspielgesetz, das keine Zensurvorschriften mehr enthält, in erster Lesung gut [9]. Auseinandersetzungen ergaben sich aus dem wachsenden Angebot pornographischer Schriften; behördliche Massnahmen, auch solche des Jugendschutzes, stiessen verschiedentlich auf Ablehnung [10].
 
[1] Vgl. SPJ, 1969, S. 141; Gesch.ber., 1970, S. 43.
[2] Vgl. Gesch.ber., 1970, S. 45 f.; BBI, 1970, II, S. 1611 f.; NZZ, 108, 6.3.70; 172, 15.4.70; 518, 6.11.70; 519, 7.11.70.
[3] Vgl. Lb, 53, 6.3.70; 54, 7.3.70; 55, 9.3.70; JdG, 56, 9.3.70; 61, 14./15.3.70.
[4] Vgl. AZ, 118, 27.5.70; 122, 1.6.70; 124, 3.6.70; Bund, 119, 26.5.70; GdL, 232, 7.10.70; JdG, 115, 21.5.70; 116, 22.5.70; NZ, 229, 25.5.70; 231, 26.5.70; NZZ, 233, 24.5.70; 245, 31.5.70; 478, 14.10.70; Sonntags-Journal, 21, 23./24.5.70.
[5] Vgl. NZZ, 511, 3.11.70. Zu den Krisen an einzelnen Bühnen vgl. Bund, 275, 24.11.70; NZZ, 252, 4.6.70; 254, 5.6.70; 257, 7.6.70; 578, 11.12.70; Vat., 42, 20.2.70; 45, 24.2.70; AZ, 122, 1.6.70; 126, 5.6.70; NBüZ, 109, 15.4.70; 110, 16.4.70; 112, 17.4.70; 114, 20.4.70; 118, 23.4.70. Vgl. auch « Theater im Kanton Zürich », Bericht einer Arbeitsgruppe, die forderte, dass städtische Bühnen in allen Bevölkerungszentren des Kantons spielen sollten (NZN, 147, 27.6.70). Vgl. weiter Bemühungen von zehn Städten um kulturellen Austausch (NZZ, 186, 23.4.70.)
[6] Vgl. Bund, 293, 15.12.70.
[7] Motion Rasser (LdU, AG) und Motion Ziegler (soz., GE) wurden als Postulate vom NR überwiesen; vgl. Verbandl. B.vers., 1970, 1I, S. 32 u. S. 41 f. Der Bundesrat erhöhte den Beitrag an die Schweizerische Filmwochenschau, vgl. NZZ, 58, 5.2.70; 85, 20.2.70.
[8] Vgl. Bund, 109, 13.5.70; 174, 29.7.70; NZZ, 360, 6.8.70; NZ, 372, 16.8.70. Zu einem weiteren Filmverbot in Bern vgl. Bund, 7, 11.1.70; 13, 18.1.70; 19,25.1.70; 23, 29.1.70; Tw, 23, 29.1.70. Vgl. auch Aufhebung des Verbots, den antimilitaristischen Film « Wege zum Ruhm » zu zeigen, durch den Bundesrat, in NZZ, 95, 26.2.70.
[9] Vgl. NZZ, 482, 16.10.70 (AG); 63, 8.2.71 (ZH); 44, 28.1.71 (LU).
[10] Vgl. Lb, 163, 17.7.70; NZ, 474, 15.10.70 (Kritik an Zensurmassnahmen der Bundesanwaltschaft); TdG, 175, 29.7.70; Lib., 256, 8./9.8.70 (Antwort auf kleine Anfrage im Walliser Parlament); NZ, 416, 10.9.70 (Debatte über Pornographie im Berner Grossen Rat); Tat, 78, 4.4.70; NZZ, 463, 6.10.70 (Ablehnung eines Jugendschutzparagraphen im Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch durch den Zürcher Kantonsrat).