Année politique Suisse 1971 : Allgemeine Chronik / Schweizerische Aussenpolitik
Aussenwirtschaftspolitik
Die Bemühungen um die europäische Integration wurden vorangetrieben. Der Bundesrat legte in einem Bericht über « Die Entwicklung der europäischen Integrationsbestrebungen und die Haltung der Schweiz » die Probleme übersichtlich dar, die sich nach dem Abschluss der zweiten Gesprächsrunde mit der
EWG-Kommission stellen. Daraus ging hervor, dass die Schweiz einen vollständigen Abbau der Einfuhrzölle und Handelsschranken auf dem Industriesektor ins Auge fasst. Schwieriger zu lösen dürften die Probleme des Agrarmarktes sein. Am wenigsten vermochten die Vorschläge der EWG-Kommission in bezug auf die Zusammenarbeit auf nichthandelspolitischen Gebieten den schweizerischen Vorstellungen zu entsprechen
[107]. Nach der Kündigung des EFTA-Abkommens durch das der EWG beitretende Grossbritannien war das Schicksal der Freihandelszone ungewiss. Die Minister der EFTA-Länder betonten zwar ihren Willen, den im Rahmen ihrer Organisation bereits erreichten Freihandel aufrechtzuerhalten. Der Weg zu diesem Ziel und die zukünftigen Beziehungen derjenigen EFTA-Staaten, die nicht der EWG beitreten wollen, zur Wirtschaftsgemeinschaft blieben indessen noch unklar
[108].
Die übrigen
multilateralen Beziehungen auf dem Gebiete der Aussenwirtschaft wurden überschattet von den amerikanischen Sanierungsmassnahmen, die Präsident Nixon aus währungspolitischen Gründen traf
[109]. Insbesondere die zehnprozentige Importabgabe liess nicht nur in der Schweiz
[110] Befürchtungen vor einer neuen Welle des Protektionismus aufkommen. Unter diesen Umständen hatte das GATT, das sich eine Liberalisierung des Welthandels zum Ziel setzt, einen schweren Stand. Eine informelle Session, die im Mai in Genf zur Reaktivierung dieser Organisation durchgeführt wurde, fasste zwar keine Beschlüsse, liess aber die Herausbildung einer neuen Gruppierung von Staaten erkennen, die am freien Handel besonders interessiert sind. Sie erhielt von den Journalisten den Namen JASSKAU-Gruppe; rechtliche Bindungen wurden einstweilen keine eingegangen
[111]. An der ordentlichen Session im November wurden auf der einen Seite die amerikanischen Massnahmen verurteilt; auf der andern Seite warnten die USA vor einer Proliferation integrationspolitischer Präferenz- und Sonderabkommen. Damit waren in erster Linie die angestrebten Sonderbeziehungen zwischen nicht beitrittswilligen EFTA-Staaten und der EWG gemeint. Diese sind nach amerikanischer Auffassung GATT-widrig
[112].
Als Erfolg des
GATT können die Inkraftsetzung der letzten Zollsenkungstranche der Kennedy-Runde
[113] und die Annahme des Zollprâferenzabkommens mit den Entwicklungsländern betrachtet werden. Um den Industriestaaten zu ermöglichen, den Entwicklungsländern Zollrabatte zu gewähren, musste vom Meistbegünstigungsprinzip abgewichen werden. In einer schriftlichen Abstimmung wurde die für den sogenannten Waiver (Verzicht auf Meistbegünstigung) nötige qualifizierte Mehrheit innerhalb des GATT erreicht
[114]. Zudem wurde den Entwicklungsländern eine Zollsenkungsrunde innerhalb der Dritten Welt zugestanden
[115]. In der Schweiz wurde ein entsprechendes Zollpräferenzsystem für Entwicklungsländer ausgearbeitet. Die Botschaft sah vor, alle Zölle auf Industriewaren sowie auf einer beschränkten Liste von Agrarprodukten in einer ersten Etappe um 30 % zu senken. In einer zweiten Phase sollten die Zölle auf den gleichen Waren ganz wegfallen. Eine Ausweichklausel beinhaltet, dass der Zollabbau gebremst oder suspendiert werden kann, wenn dadurch Störungen in der schweizerischen Wirtschaft entstehen sollten. Diese bescheidene Massnahme — die Präferenzen umfassen nur etwa 5 Prozent des Gesamtimports und der Zollausfall macht höchstens 2,3 Prozent des Gesamtertrages aus — wurde vom Parlament gutgeheissen. Einzig die Liste der begünstigten Entwicklungsländer war umstritten. Ein Antrag von Nationalrat Renschler (sp, ZH), die Ausweichklausel zu streichen, wurde verworfen
[116]. Trotz dieser neuen Massnahme und der Bewilligung eines Entwicklungskredits des Bundes
[117] verstummten jene Stimmen nicht, welche die Wirtschaftsbeziehungen der Schweiz zu den Entwicklungsländern als einseitig kritisierten
[118].
Im Rahmen der
UNCTAD wurde eine neue intergouvernementale Gruppe gebildet, die sich mit der Frage der Übertragung von Know-how auf die Entwicklungsländer befasst
[119]. Der UNCTAD-Rat hiess eine Resolution gut, in der die sofortige Aufhebung der amerikanischen Importsteuer gefordert wurde; die Schweiz stimmte gegen diese Resolution
[120]. Ebenfalls im Rahmen der UNCTAD wurde ein neues Weizenabkommen ausgehandelt. Es führt das alte Abkommen weiter, umfasst auch eine Konvention über die Getreidehilfe, verzichtet aber im Gegensatz zu seinem Vorgänger auf die Festsetzung von Höchst- und Mindestpreisen. Die Schweiz unterzeichnete. das Abkommen im April. Die Ratifikation durch die eidgenössischen Räte erfolgte in der Herbst-, bzw. Wintersession
[121]. Ein Ausschuss der OECD stellte zwar eine Stagnation der Entwicklungshilfe, dafür aber ein befriedigendes Wachstum in den Entwicklungsländern fest. Im übrigen wandte sich diese Organisation ebenfalls den Welthandelsproblemen zu. Sie setzte eine Arbeitsgruppe von hohen Beamten ein, die Grundfragen zu klären hat. Schliesslich befassten sich Sonderausschüsse mit Umweltproblemen und mit der Wissenschaftspolitik der Mitgliedländer
[122]. In die Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa (ECE), der einzigen Organisation, in der sich alle Staaten West- und Osteuropas zur Besprechung von Wirtschaftsfragen treffen, wurde die Schweiz als Vollmitglied aufgenommen. Die parlamentarischen Beratungen über die Entrichtung eines Beitrages fanden 1971 nicht mehr statt
[123]. Schliesslich verabschiedete der Bundesrat eine Botschaft, in der er die Genehmigung des Haager Übereinkommens betreffend das auf internationale Kaufverträge über bewegliche körperliche Sachen anzuwendende Recht beantragte
[124].
Im Bereich der
bilateralen Aussenwirtschaftsbeziehungen zeichnete sich 1971 eine Intensivierung der Kontakte mit den osteuropäischen Staatshandelsländern ab. Mit der Tschechoslowakei wurde ein neues Abkommen über den Wirtschaftsverkehr unterzeichnet. Bei dieser Gelegenheit wurde der gebundene Zahlungsverkehr mit diesem Staat aufgehoben
[125]. Ähnliche Abkommen werden mit Rumänien, Polen, Ungarn und Bulgarien angestrebt. Die Verhandlungen waren zum Teil bereits im Gang
[126]. Eine schweizerische Delegation von prominenten Vertretern der wichtigsten Wirtschaftszweige, angeführt vom Präsidenten des Vororts, E. Junod, holte den 1968 verschobenen Moskau-Besuch nach. Mit sowjetischen Staatsstellen wurden drei neue Abkommen über wissenschaftliche und technische Zusammenarbeit unterzeichnet
[127]. Umgekehrt fand in den Basler Mustermesse-Räumen eine Exportgüterausstellung von 25 russischen Aussenhandelsunternehmen statt. Sie wurde vom sowjetischen Aussenhandelsminister Patolitschew, der auch den Bundesrat besuchte, eröffnet
[128]. In Zürich wurde eine jugoslawische Wirtschaftsausstellung durchgeführt
[129].
Während mit Österreich Gespräche über ein Doppelbesteuerungsabkommen aufgenommen wurden, konnte ein solches Abkommen mit Japan unterzeichnet und ratifiziert werden
[130]. Zu heftigen Diskussionen gab das mit der Bundesrepublik Deutschland ausgehandelte Doppelbesteuerungsabkommen Anlass. Die wichtigste Konzession der Schweiz besteht darin, dass sie ihrem Partner Sonderbestimmungen zur Bekämpfung der Steuerflucht zugestehen musste. Dies hat umgekehrt die Folge, dass auch die Deutschlandschweizer steuerlich schlechter gestellt werden als bisher, was deren vehemente Opposition auf den Plan rief. Kritisiert wurde auch, dass der Schweiz Steuereinkommensausfälle entstehen werden. Die parlamentarischen Debatten zu diesem Abkommen finden erst 1972 statt
[131]. Ein erstes Vernehmfassungsverfahren über einen Entwurf zu einem Rechtshilfeabkommen mit den USA ergab zwar keine Begeisterung, liess aber die Fortführung der Gespräche mit den Amerikanern zu
[132]. Die Beziehungen zu Italien schliesslich waren weiterhin belastet durch die Kontroverse um den Status der Gastarbeiter
[133].
Um der raschen Entwicklung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen gerecht werden zu können, beantragte der Bundesrat, den auf Ende 1972 auslaufenden Bundesbeschluss über aussenwirtschaftliche Massnahmen zu erneuern. Bei dieser Gelegenheit soll dem Bundesrat die Kompetenz übertragen werden, zur Wahrnehmung wesentlicher schweizerischer Wirtschaftsinteressen Abkommen über den Waren-, Dienstleistungs- und Zahlungsverkehr vorläufig selbst in Kraft zu setzen. Die schweizerische Verrechnungsstelle soll überdies organisatorisch der Nationalbank angegliedert werden können
[134]. Gegen Ende des Jahres passte der Bundesrat den Zolltarif der revidierten Brüsseler-Nomenklatur an
[135]. Die Oberzolldirektion führte eine Vernehmlassung über ihre Absichten durch, im Nahverkehr die Zollvorschriften insofern zu lockern, als bis zu einer Toleranzgrenze von 50 Fr. die Wareneinfuhr zollfrei bleiben soll
[136].
[107] Zur Diskussion um die Verhandlungen mit der EWG vgl. oben, S. 47 f.; Bericht in BBI, 1971, I, S. 647 ff.
[108] EFTA-Bulletin, 12/1971, Juni, S. 22, und Dezember, S. 23; NZ, 217, 14.5.71.
[110] BN, 403, 25./26.9.71; NZZ, 448, 27.9.71; BBl, 1971, I, S. 629.
[111] Zur Gruppe gehören Japan, Schweden, Schweiz, Kanada, Australien; NZZ, 195, 29.4.71; 197, 30.4.71; 200, 2.5.71; 203, 4.5.71. Betreffend Schwierigkeiten des GATT vgl. auch: NZ, 195, 30.4.71; JdG, 1./2.5.71;
[112] NZZ, 537, 17.11.71; 543, 21.11.71; 544, 22.11.71; 549, 24.11.71; 556, 29.11.71; BBI, 1972, I, S. 251 f. .
[113] NZZ, 607, 29.12.71.
[114] NZZ, 121, 4.3.71; 185, 23.4.71; 188, 25.4.71; 242, 27.5.71; 296, 29.6.71.
[115] NZZ, 155, 2.4.71; 539, 18.11.71.
[116] BBI, 1971, I, S. 689 ff.; Sten. Bull. NR, 1971, S. 458 ff., 1117; Sten. Bull. StR, 1971, S. 518 ff., 525; AS, 1971, S. 243 ff.
[118] NZ, 40, 26.1.71; 42, 27.1.71; 44, 28.1.71; 160, 7.4.71; 424, 15.9.71; GdL, 154, 6.7.71.
[119] NZZ, 117, 11.3.71; 276, 17.6.71.
[121] NZZ, 83, 19.2.71; 86, 22.2.71; NZZ (sda), 196, 29.4.71; BBI, 1971, I, S. 1304 ff. ; Sten. Bull. StR, 1971, S. 596 f.; Sten. Bull. NR, 1971, S. 1479; AS, 1972, S. 486 ff.
[122] NZZ, 57, 4.2.71; 148, 30.3.71; 200, 2.5.71; 481, 15.10.71; 493, 22.10.71; BBI, 1972, I, S. 250 f.
[123] NZZ, 322, 14.7.71; 334, 21.7.71; BBl, 1971, II, S. 1413 ff.
[124] BBI, 1971, II, S. 1037 ff.
[125] BBI, 1971, II, S. 626. NZZ (sda), 213, 10.5.71; Bund, 136, 15.6.71.
[126] BBl, 1972, I, S. 230 f.; NZZ, 80, 18.2.71; TdG, 41, 19.2.71; BN, 86, 26.2.71.
[127] GdL, 126, 3.6.71; SJ, 23, 5./6.6.71; 25, 29./30.6.71; NZZ, 269, 14.6.71. Vgl. SPJ, 1970, S. 64.
[128] NZ, 204, 7.5.71; 246, 3.6.71; GdL, 128, 5./6.6.71.
[130] NZZ, 534, 16.11.71 (Österreich); NZZ, 30, 20.1.71; BBI, 1971, I, S. 661 ff.; Sten. Bull. StR, 1971, S. 432 f.; Sten. Bull. NR, 1971, S. 975 f.
[131] Vgl. SPJ, 1970, S. 80; BBl, 1971, II, S. 1423 if.; Kritik in NZZ, 518, 6.11.71; 525,10.11.71; 548, 24.11.71; TA, 275, 24.11.71; Entgegnung des Direktors der Eidg. Steuerverwaltung, K. Locher, in NZZ, 604, 28.12.71; 607, 29.12.71.
[132] Vgl. SPJ, 1970, S. 80; NZZ, 440, 22.9.71; 457, 1.10.71; 479, 14.10.71.
[133] Vgl. unten, S. 126 ff.
[134] BBI,1971, II, S. 1521 ff.
[135] NZZ, 594, 29.12.71.
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