Année politique Suisse 1971 : Wirtschaft / Allgemeine Wirtschaftspolitik
 
Wirtschaftsordnung
Die Diskussion um die schweizerische Wirtschaftsordnung konzentrierte sich 1971 auf drei Themenkreise: Erstens zeigten die vorbereitenden Gespräche mit der EWG, die durch die Konzentrationswelle zunehmende Bedeutung der multinationalen Konzerne und vor allem die jäh ausgebrochenen Währungskrisen mit grosser Deutlichkeit, dass von einer nationalen wirtschaftlichen Eigenständigkeit der Schweiz kaum mehr die Rede sein kann [1]. Zweitens nahm die Teuerung derartige Ausmasse an, dass nicht zuletzt überzeugte Verfechter des Liberalismus die Befürchtung äusserten, die Inflation könnte wegen ihrer ungesunden sozialen und politischen Konsequenzen auch die ohnehin schon strapazierte Marktwirtschaft in Frage stellen [2]. Drittens schliesslich wich die in den sechziger Jahren beobachtete Wachstumseuphorie wegen des stärker in den Vordergrund tretenden Umweltschutzgedankens und wegen der deutlicher werdenden Mängel bei der Infrastruktur immer mehr einer Ernüchterung, die zum Teil in eine eigentliche Industriefeindlichkeit umschlug. Dagegen wurde allerdings geltend gemacht, weiteres Wirtschaftswachstum und mehr Technik würden sehr wohl benötigt, nur müssten beide vermehrt zugunsten des Umweltschutzes statt des privaten Konsums eingesetzt werden [3]. Die Appelle an das Verantwortungsgefühl der Unternehmer blieben nicht ungehört. An verschiedenen Tagungen und Symposien wurde bei den Spitzenleuten der Wirtschaft das Bewusstsein dafür geweckt, dass durch das ungezügelte quantitative Wachstum der Wirtschaft die Gesellschaft, die Umwelt und auch die Marktordnung selbst bedroht sind [4]. Von seiten der Wirtschaft wurden die Schaffung eines Instituts für Wirtschafts- und Strukturforschung vorgeschlagen und gleichzeitig die Bemühungen um eine bessere. Imagepflege und um die vertiefte Information vor allem der Jugend vorangetrieben [5].
Die massive, oft pessimistische Kritik an der « Konsumgesellschaft » und an den Schattenseiten der wirtschaftlichen Entwicklung mündete zum Teil in eine eigentliche Zukunftsangst aus [6]. Dieser Verunsicherung wurde der Wille gegenübergestellt, die Zukunft durch Prospektive und Planung durchschaubarer zu machen. Von der unter Prof. F. Kneschaurek erstellten Perspektiv-Studie wurden neue Teilberichte, insbesondere der Bildungsbericht und der erste Branchenbericht über die Landwirtschaft, veröffentlicht [7]. Kurse, Seminarien und andere Treffen befassten sich intensiv mit Prognostik und Wirtschaftsfuturologie [8]. Auf der anderen Seite wurde aber auch an der zukunftsgerichteten Sensationsliteratur Kritik geübt und vor den Gefahren von Fehlprognosen, Manipulationen des wirtschaftlichen Verhaltens, einseitigen Leitbildern und einer blinden Gläubigkeit an die Zukunftswissenschaft gewarnt [9].
 
[1] Zur EWG vgl. oben, S. 46 f.; zur Währungsfrage vgl. unten, S. 74 f.; siehe auch SI, 4, 23./24.1.71; Bund, 200, 29.8.71.
[2] Zur Inflation vgl. unten, S. 76 ff.; siehe auch NZZ, 1, 1.1.71; 176, 18.4.71; 212, 9.5.71; 280, 20.6.71; 405, 1.9.71.
[3] A. ALTENWEGER, «Die Wirtschaft wird angefochten», in Die Schweiz, Jahrbuch der NHG, 43/1972, S.11 ff. R. REICH, «Über die Zukunft der freiheitlichen Staats- und Wirtschaftsordnung», in Bulletin der Schweizerischen Kreditanstalt, 77/1971, Oktober, S. 37 ff.; NZZ, 37, 24.1.71; 121, 14.3.71; 188, 25.4.71; 268, 13.6.71; 358, 3.8.71; 376, 15.8.71; 436, 19.9.71; 531, 14.11.71; 548, 24.11.71; NZ, 106, 7.3.71; 154, 4.4.71; 173, 18.4.71; wf, Dokumentation- und Pressedienst, 11, 15.3.71; Bund, 93, 23.4.71; 246, 21.10.71; 300, 23.12.71; JdG, 135, 14.6.71; Lb, 122, 29.5.71; 209, 9.9.71; Vat., 157, 10.7.71; Tat, 164, 15.7.71; AZ, 193, 20.8.71; 275, 24.11.71; NZN, 265, 12.11.71.
[4] Management-Symposium in Davos (NZZ, 78, 17.2.71; 84, 20.2.71; NZ, 48, 31.1.71; 54, 3.2.71; 72, 14.2.71; 96, 28.2.71); 20. Studientagung des Gottlieb-Duttweiler-Instituts (NZZ, 314, 9.7.71); Zweites Internationales Management-Gespräch in St. Gallen (NZZ, 267, 12.6.71; 272, 15.6.71; 284, 22.6.71; 289, 25.6.71; Heftige Kritik in AZ, 132, 10.6.71); Herbsttagung der Vereinigung christlicher Unternehmer (NZZ, sda, 454, 30.9.71); Kontrast-Woche für Manager in St. Moritz (NZZ, 459, 3.10.71); Symposium in St. Gallen (NZZ, 493, 22.10.71).
[5] NZZ, 200, 2.5.71; Tagung auf Boldern (NZZ,'231, 25.5.71); Tagung der Vereinigung für freies Unternehmertun über «Schule und Wirtschaft » (Tat, 145, 23.6.71).
[6] NZZ, 543, 21.11.71; 578, 11.12.71; 589, 17.12.71.
[7] Vgl. unten, S. 90 und 138.
[8] Die Referate einer Arbeitstagung in Rüschlikon sind zusammengefasst in PAUL DUBACH, BRUNO FRITSCH, Zukunft Schweiz, Zürich 1971; vgl. auch oben, S. 12, sowie NZZ, 432, 16.9.71 (Symposium von Landis & Gyr); BN, 11, 9./10.1.71; Ostschw., 244, 19.10.71; NZZ, 573, 8.12.71 (Kurse der Hochschule St. Gallen).
[9] NZZ, 176, 18.4.71; 495, 24.10.71; 519, 7.11.71; 565, 3.12.71; BN, 148, 10./11.4.71; TA, 260, 6.11.71; NZ, 579, 15.12.71; 583, 17.12.71.