Année politique Suisse 1971 : Wirtschaft / Allgemeine Wirtschaftspolitik
 
Konjunkturlage
Die wirtschaftsstatistischen Zahlen zeugten 1971 im grossen und ganzen von einem Fortbestand der guten Konjunkturlage [16]. Sie wiesen aber auch auf eine Verlangsamung des ökonomischen Wachstums hin. Sowohl beim Aussenhandel [17] als auch bei den Investitionen und der industriellen Produktion [18] gingen die Zuwachsraten zurück. Nach den beiden Währungskrisen vom Mai und August [19] häuften sich im Herbst Meldungen über rückläufige Auftragsbestände. Auch kam es vermehrt zu Betriebsschliessungen und Personalentlassungen und zu einem merklichen Rückgang des Stellenwechsels. Es handelte sich bei den Entlassungen aber nur ausnahmsweise um echte Einschränkungen der Tätigkeit. Meist waren sie auf strukturelle Flurbereinigungen zurückzuführen. Trotzdem kam es gegen Ende des Jahres zu einer weitverbreiteten Rezessionsangst, der allerdings von offizieller Seite betont optimistische Äusserungen entgegengesetzt wurden [20]. Die Abschwächung der Konjunktur und die Verlangsamung des Wachstums gingen einher mit einer merklich beschleunigten Teuerung, was die Fachleute von Ansätzen zu einer Stagflation sprechen liess. Die alles bisherige in den Schatten stellende Inflation war das Hauptproblem der schweizerischen Konjunktur des Jahres 1971. Aus einer Statistik der OECD ging hervor, dass die Schweiz vor der Aufwertung im Mai den absoluten Rekord der Inflationsbeschleunigung innehatte [21]. Am Ende des Jahres erreichte der Landesindex der Konsumentenpreise einen Stand von 116,3 und lag damit um 6,6 Prozent über dem Vorjahresstand (1970: + 5,4 %). Einen wichtigen Teuerungsfaktor bildeten 1971 erneut die Wohnungsmieten; noch stärker ins Gewicht fielen dieses Mal die Nahrungsmittelpreise [22]. Angesichts der grossen Teuerung war es nicht überraschend, dass das Bruttosozialprodukt real weniger zunahm als im Vorjahr. Bei der Beurteilung dieser wichtigen Grösse war man aber weitgehend auf Schätzungen angewiesen. Das Eidgenössische Statistische Amt hatte bekanntgeben müssen, dass zwischen der Berechnung des Sozialprodukts nach Einkommensarten und der Errechnung nach der Verwendung eine nicht mehr vertretbare Differenz von 2,3 Mia Franken entstanden sei [23]. Dieser gravierende Rückschlag in der schweizerischen Wirtschaftsstatistik fiel in einen Zeitpunkt, wo für die Konjunkturpolitik verlässliche Zahlen als dringend notwendig erachtet wurden und zahlreiche Stimmen nach einer Verbesserung der Wirtschafts- und Sozialstatistik riefen [24].
 
[16] Für Überblicke vgl. BN, 553, 31.12.71; 20, 14.1.72; NZ, 18, 12.1.72. Mitteilung Nr. 213 der Kommission für Konjunkturfragen, Beilage zu Die Volkswirtschaft, 45/1972, Heft 2.
[17] Vgl. unten, S. 80.
[18] Der Index der Industrieproduktion stieg 1971 um einen auf 144 Punkte (1970: +11 Punkte), vgl. Die Volkswirtschaft, 45/1972, S. 141.
[19] Vgl. unten, S. 74 f.
[20] wf, Artikeldienst, 21, 24.5.71; TA, 164, 17.7.71; wf, Dokumentations- und Pressedienst, 39, 27.9.71; JdG, 232, 6.10.71; 268, 17.11.71; GdL, 235, 9./10.10.71; 275, 25.11.71; SJ, 41, 9./10.10.71 ; 45, 6./7.11.71 ; BN, 432, 14.10.71; 487, 18.11.71; NBüZ, 309,15.10.71; 327, 30.10.71; NZ, 477, 17.10.71; AZ, 245, 20.10.71; TLM, 309, 5.11.71.
[21] NZN, 121, 27.5.71; über die Auswirkungen der Inflation orientierten die Schweizer Monatshefte, 50/1970-71, Januarheft 10.
[22] Der Grosshandelspreisindex stieg freilich nur um 2,5 %. Vgl. NZZ (sda), 11, 7.1.72; NZZ (sda), 7, 5.1.72; Die Volkswirtschaft, 45/1972, S. 48.
[23] GdL, 229, 2./3.10.71; BN, 425, 9./10.10.71; NZZ, 471, 10.10.71.
[24] Tat, 85, 13.4.71; JdG, 122, 28.5.71; GdL, 151, 2.7.71; BN, 371, 4./5.9.71; Schweiz. Gewerbe-Zeitung, 47, 19.11.71.