Année politique Suisse 1971 : Allgemeine Chronik / Öffentliche Finanzen
 
Situation der öffentlichen Finanzen
Im Jahre 1971 hat sich die Situation der öffentlichen Finanzen verschlechtert. Diese Entwicklung zeigte sich am deutlichsten bei den Kantonen. Deren Rechnungen für das Jahr 1970 fielen zwar besser aus als budgetiert. Es wurden aber immerhin rund 246 Mio Fr. mehr ausgegeben als eingenommen. Im Vergleich zum vorangehenden Jahr (1969) mussten 17 Kantone zum Teil wesentlich höhere Defizite ausweisen. Wie in den beiden Vorjahren sind auch für 1972 die kantonalen Gesamtvoranschläge ausnahmslos defizitär. Die Verschlechterung der Lage zeigt sich darin, dass erstmals bereits sämtliche Budgets der ordentlichen Rechnung einen Ausgabenüberschuss aufweisen. Die budgetierten Defizite erreichen eine Grössenordnung von 1180 Mio Fr. (1971: 810 Mio Fr). Zudem rechnen die Gemeinden mit einem Ausgabenüberschuss von etwa 500 Mio Fr. Davon gehen 390 Mio Fr. allein auf das Konto der acht grossen Städte [1].
Obwohl sich das finanzielle Gesamtbild beim Bund immer noch günstiger präsentierte als bei den Kantonen und Gemeinden, wiesen die Zahlen auch bei der Eidgenossenschaft auf eine Tendenzumkehr hin. Schon bei der Veröffentlichung der Staatsrechnung 1970, die in der Finanzrechnung einen unerwartet hohen Einnahmenüberschuss von 210 Mio Fr. und einen Reinertrag von 298 Mio Fr. in der Gesamtrechnung auswies, warnte Bundesrat Celio vor einem allzugrossen Finanzoptimismus. Die Staatsrechnung wurde vom Parlament erstmals zusammen mit dem Geschäftsbericht des Bundesrates behandelt. Sie wurde von beiden Räten oppositionslos genehmigt [2]. Wesentlich schlechter als erwartet fiel die Staatsrechnung für 1971 aus. Statt dem budgetierten Defizit von 92 Mio Fr. ergab sich in der Finanzrechnung ein Ausgabenüberschuss von 294 Mio Fr. Der Reinertrag in der Gesamtrechnung schmolz von den veranschlagten 318 Mio Fr. auf 64 Mio Fr. zusammen. Der Grund für diesen unerfreulichen Abschluss liegt darin, dass die Budgetzahlen bei den Ausgaben um 4,1 %, bei den Einnahmen nur um 1,8 % übertroffen wurden [3]. Die bedeutenden Mehraufwendungen lassen sich bereits aus den 1971 bewilligten Nachtragskrediten, die eine Höhe von fast 600 Mio Fr. erreichten, ersehen. Diese Kredite waren schon im Nationalrat kritisiert worden [4]. Der Voranschlag für 1972, in dem sich die Bemühungen um einen zumindest ausgeglichenen Haushalt abzeichneten, sah in der Finanzrechnung einen Einnahmenüberschuss von 178 Mio Fr., in der Gesamtrechnung einen Reinertrag von 416 Mio Fr. vor. Die Botschaft stellte fest, dass ein Budget noch nie derart im «Spannungsfeld wachstums-, sozial- und konjunkturpolitischer Erfordernisse» gestanden sei. In den parlamentarischen Debatten stand denn auch die Frage nach der Konjunkturgerechtigkeit des Budgets im Vordergrund. Da die Steigerung der Ausgaben die mutmassliche Zunahme des Bruttosozialprodukts übertreffen dürfte, wurde das Budget bestenfalls als konjunkturneutral bezeichnet. Auch die Kreditkürzungen von 135 Mio Fr., die bei wesentlicher Abkühlung des konjunkturellen Klimas auf dem Nachtragskreditweg wieder rückgängig gemacht werden können, wurden nur als Ansatz zu einem Eventualbudget und zu einer elastischen Finanzpolitik gesehen. Die Konjunkturrücklage sei so gering, dass damit kaum wirksam operiert werden könne. In der Detailberatung gerieten die Militärkredite, obwohl sie einen immer kleineren Anteil an den Gesamtausgaben ausmachen, erneut unter Beschuss. Die Opposition blieb freilich im Nationalrat zahlenmässig klein. Im Ständerat machte sie sich gar nicht bemerkbar. Anträge auf eine Erhöhung der Investitionskredite für die Landwirtschaft wurden knapp abgelehnt [5].
Dem kleinen Einnahmenüberschuss des Bundes standen somit grosse budgetierte Defizite der Kantone und Gemeinden gegenüber. Um diesen Gegensatz abzubauen, fand im August in Bern erstmals ein Koordinationsgespräch zwischen den kantonalen Finanzdirektoren und dem Vorsteher des EFZD statt. Es wurden die Erfordernisse und Möglichkeiten einer konjunkturgerechten Budgetierung erörtert und Empfehlungen für die Voranschläge 1972 gutgeheissen. Solche Koordinationsgespräche sollen in Zukunft fester Bestandteil der Budgetvorbereitungen sein [6]. Die bescheidenen Ansätze zu einer vermehrten Zusammenarbeit der Kantone auf dem Gebiete der Finanzpolitik waren auch bei zwei Konferenzen der Finanzdirektoren zu erkennen; es wurden in Zusammenarbeit mit dem EFZD erste Schritte in den Vereinheitlichungsbestrebungen für die Gestaltung des Rechnungswesens nach funktionalen und volkswirtschaftlichen Kriterien unternommen, mit dem Ziel, Vergleiche zwischen den verschiedenen öffentlichen Haushalten zu ermöglichen [7].
 
[1] Vgl. SPJ, 1970, S. 82; Die Volkswirtschaft, 45/1972, S. 11 ff.; wf, Dokumentations- und Pressedienst, 27/28, 5.7.71; 49, 6.12.71.
[2] Vgl. SPJ, 1970, S. 82; Staatsrechn. Eidg., 1970; Sten. Bull. NR, 1971, S. 557 ff., 861; Sten. Bull. StR, 1971, S. 215 ff.; BBI, 1971, I, S. 1493 f.
[3] NZZ, 112, 7.3.71.
[4] Sten. Bull. NR, 1971, S. 503 ff.; 1473 ff.; Sten. Bull. SIR, 1971, S. 294 ff., 820 ff.; NZZ, 229, 19.5.71; 546, 23.11.71.
[5] Voranschl. Eidg., 1972; Sten. Bull. StR, 1971, S. 678 ff., 706 ff.; Sten. Bull. NR, 1971, S. 1509 ff., 1562 ff.; Kommentare in JdG, 249, 26.10.71; Lb, 249, 26.10.71; NBZ, 249, 26.10.71; NZ, 493, 26.10.71; TA, 250, 26.10.71; Vat., 249, 26.10.71; VO, 251, 30.10.71; NZZ, 529, 12.11.71; vgl. unten, S. 91.
[6] Bund, 196, 24.8.71; NZZ, 391, 24.8.71; GdL, 196, 24.8.71.
[7] Tat, 138, 15.6.71; TdG, 136, 15.6.71.