Année politique Suisse 1971 : Infrastruktur und Lebensraum / Energie
 
Kernenergie
Die Produktion von Atomenergie wurde im Laufe des Jahres in zwei neuen Werken aufgenommen: im Frühjahr in Mühleberg (BE) und im Herbst in einer zweiten Anlage auf der aargauischen Aareinsel Beznau (Beznau II). Bevor man aber in Mühleberg zum vollen Betrieb übergehen konnte, legte ein Ölbrand das Werk für längere Zeit lahm. Auch Beznau I musste wegen Störungen und Revisionsarbeiten erneut einige Monate ausgeschaltet werden [8]. Im Zuge der Planung weiterer Anlagen ersuchte die Energie de l'Ouest-Suisse (EOS) im Januar um die Standortbewilligung für ein Werk in Verbois (GE) [9], und die Centralschweizerischen Kraftwerke (CKW) interessierten sich für Landerwerb in Inwil (LU) [10].
Die heftigen Auseinandersetzungen um den Bau neuer Atomkraftwerke im Aargau [11] veranlassten den Bundesrat zu einem Entscheid, der die Elektrizitätswirtschaft zu einer bedeutsamen Umstellung zwang, ohne freilich die erregten Gemüter beruhigen zu können. Zwar wurde die Gefahr von Strahlenschäden in der Umgebung der Kraftwerke von Behörden und Experten wiederholt bestritten [12], doch die Landesregierung gab sich aufgrund neuer Untersuchungen Rechenschaft, dass die Kühlung weiterer Reaktoren durch Wasserentnahme aus dem Rhein die Temperatur des erheblich verunreinigten Flusses stärker erhöhen würde, als es in einem Expertenbericht als tragbar bezeichnet worden war [13]. In einer Aussprache legte der Chef des EVED den Vertretern der an Aare und Rhein gelegenen Kantone dar, dass für die nächsten Atomzentralen Flusswasserkühlung nicht mehr in Frage komme, und der Gesamtbundesrat bestätigte diesen Bescheid [14]. Die aargauische Regierung, welche die neuen Kraftwerkprojekte gefährdet sah, zeigte sich darob sehr ungehalten, und auch andere Stimmen warfen dem Bundesrat, der mit den Standortbewilligungen für Kaiseraugst und Leibstadt die Flusswasserkühlung praktisch genehmigt hatte, Kurslosigkeit vor. Es wurde ferner darauf hingewiesen, dass der seinerzeit angenommene Gestehungspreis für Atomenergie durch einen Wechsel des Kühlungssystems merklich erhöht würde [15]. Die Studienkonsortien für beide Projekte trugen jedoch der neuen Lage rasch Rechnung und legten Varianten mit Kühltürmen vor [16]. Die Aussicht auf die Erstellung unförmiger Riesenbauten von rund 100 m Höhe und Durchmesser rief freilich neue Opposition auf den Plan: gegen das. Baugesuch für entsprechende Anlagen in Kaiseraugst wurden mehrere Einsprachen eingereicht, nicht zuletzt aus Kreisen des Fremdenverkehrs. Auch von Kühltürmen wurden klimatische Veränderungen befürchtet [17]. Vertreter der Energiewirtschaft betonten demgegenüber, dass ab 1976 Energieknappheit zu erwarten sei, wenn nicht umgehend mit dem Bau eines weiteren Kernkraftwerkes begonnen werde [18], und Bundesrat Bonvin rief im Interesse einer ungestörten Stromversorgung zur Verständigung aller Beteiligten auf [19]. Das EVED setzte zwei Kommissionen ein. Die eine sollte kurzfristig die Auswirkungen der für Kaiseraugst und Leibstadt vorgesehenen Kühlturmtypen abklären; da sie eingehende meteorologische Studien anordnete, kam sie freilich vor Jahresende noch zu keinen definitiven Ergebnissen. Die andere hatte ganz allgemein die verschiedenen Kühlsysteme zu untersuchen; dabei zog sie auch die Verwendung der Abfallwärme für die Fernheizung von Städten in Betracht [20].
 
[8] Mühleberg: Bund, 146, 27.6.71; 175, 30.7.71; Beznau II : NZZ (sda), 497, 25.10.71; Beznau I: NZ, 108, 8.3.71; Tat, 147, 25.6.71; NZZ (sda), 475, 12.10.71; SPJ, 1970, S. 100.
[9] GdL (sda), 4, 7.1.71; TdG, 5, 8.1.71; JdG, 9, 13.1.71.
[10] TA, 270, 18.11.71.
[11] Vgl. SPJ, 1970, S. 100 f.
[12] NZZ (sda), 186, 23.4.71; 564, 3.12.71; 602, 27.12.71; Bund, 289, 10.12.71.
[13] Vgl. SPJ, 1969, S. 92 f.
[14] NZZ (sda), 110, 8.3.71; 164, 8.4.71; NZZ, 325, 16.7.71. Vgl. auch BR Bonvin in NR: Sten. Bull. NR, 1971, S. 530 ff.
[15] Regierung von AG: NZZ, 137, 23.3.71. Vgl. ferner Bund, 87, 16.4.71; NZZ, 176, 18.4.71; Vat., 99, 30.4.71; Interpellation Binder (cvp, AG) im NR: Sten. Bull. NR, 1971, S. 528 ff. Zu den Standortsbewilligungen vgl. SPJ, 1969, S. 93, zu den Strompreiskalkulationen SPJ, 1965, in SJPW, 6/1966, S. 170.
[16] Kaiseraugst: TA, 160, 13.7.71; Leibstadt: NZZ (sda), 579, 12.12.71.
[17] NZ, 339, 28.7.71; 379, 20.8.71; 389, 26.8.71. Andere Kreise opponierten weiterhin mit dem Argument der Strahlengefahr: NZ, 151, 2.4.71; 520, 11.11.71; 576, 14.12.71.
[18] NZZ (sda), 303, 3.7.71; NZZ, 449, 27.9.71; 505, 29.10.71; 512, 3.11.71.
[19] Anlässlich der Einweihung der Engadiner Kraftwerke (NZZ, 401, 30.8.71).
[20] NZZ, 299, 1.7.71; 471, 10.10.71; 519, 7.11.71; TA, 259, 5.11.71; NZZ (sda), 564, 3.12.71; Gesch.ber., 1971, S. 247. Zur Frage der Fernheizung vgl. auch Interpellation Bächtold (ldu, BE) im NR: Sten. Bull. NR, 1971, S. 521 ff.