Année politique Suisse 1971 : Infrastruktur und Lebensraum / Verkehr und Kommunikation
Strassenverkehr
Im Bereich des Strassenverkehrs kam es zu verschiedenen Auseinandersetzungen zwischen wirtschaftlichen Interessen, Bedürfnissen der individuellen Motorfahrzeugbenützer und Erfordernissen des Schutzes von Gesundheit und Umwelt. Der Bundesrat zeigte ein gewisses Entgegenkommen gegenüber dem Bau- und Transportgewerbe, als er eine beschränkte Erweiterung der zulässigen Masse und Gewichte für schwere Motorwagen beantragte
[26]. Da dieser Antrag den Transportverbänden, die sich auf EWG-Normen beriefen, nicht genügte, wollte eine knappe Mehrheit der vorberatenden Nationalratskommission bei den Gewichtsgrenzen für die grössten Wagen und Wagenkombinationen noch weiter gehen. Anderseits drohte aber eine kurz zuvor gegründete Schweizerische Gesellschaft für Umweltschutz bereits der Vorlage des Bundesrates das Referendum an. Gewerkschaftliche Kreise und auch der Touring-Club der Schweiz (TCS) machten Vorbehalte
[27]. So blieb der Nationalrat im wesentlichen beim Vorschlag des Bundesrats stehen. Da die Referendumsdrohung bekräftigt wurde, machte der Ständerat im Dezember noch einige Abstriche bei den Längen- und Breitenmässen, ohne aber eine Verständigung herbeiführen zu können
[28].
Unter dem Eindruck der jährlichen Zunahme der
Verkehrsunfälle (von 1968 auf 1969: 9 %, von 1969 auf 1970: 9,4 %)
[29] gab der Bundesrat eine Art Programm von Massnahmen zur Unfallbekämpfung bekannt
[30]. Als Grundlage verwendete er den Bericht einer 1963 vom EJPD eingesetzten Studiengruppe, der 1969 veröffentlicht worden war
[31]. Er befürwortete u. a. die Einsetzung einer ständigen Expertenkommission für Fragen der Unfallverhütung und die Schaffung eines zentralen Registers für Strassenverkehrsdelikte. Eine heftige Kontroverse löste er mit der Stellungnahme für eine generelle Geschwindigkeitsbeschränkung auf Aussenortsstrassen mit Ausnahme der Autobahnen aus, wobei er die Grenze auf 100 km/h ansetzen wollte. Er stützte sich dazu auf einen neuen Bericht der Schweizerischen Beratungsstelle für Unfallverhütung, der sich für abgestufte Höchstgeschwindigkeiten aussprach, während die Studiengruppe des EJPD nur örtlich und zeitlich begrenzte Einschränkungen empfohlen hatte. Da er die umstrittene Massnahme vorerst versuchsweise einzuführen gedachte — man sprach von zwei bis drei Jahren
[32] — zog der Bundesrat eine einheitliche Beschränkung vor. Obwohl er die gesetzliche Kompetenz zum Erlass von Geschwindigkeitsvorschriften besitzt, stellte er seinen Entschluss zunächst öffentlich zur Diskussion. Während die Strassenverkehrsverbände eine generelle Geschwindigkeitsbeschränkung als unwirksam missbilligten, stimmten sowohl die Ständige Strassenverkehrskommission des Bundes wie die Interkantonale Kommission für den Strassenverkehr der 100 km/h-Grenze zu. Verschiedene Sektionen des Automobil-Clubs der Schweiz (ACS) sammelten Unterschriften für eine Petition
[33]. Im Dezember wurde die Einführung von Höchstgeschwindigkeiten auch von der Europäischen Verkehrsminister-Konferenz empfohlen und eine für alle Mitgliedstaaten gültige Regelung ins Auge gefasst
[34].
Geradezu ein Sturm brach los, als die in der sog. Unfalldirektoren-Konferenz vereinigten Unternehmungen zwei Monate vor den Wahlen erneut erhebliche
Prämienerhöhungen für die obligatorische Motorfahrzeugversicherung beantragten und das Eidg. Versicherungsamt diese genehmigte
[35]. Der TCS und die Sozialdemokratische Partei — etwas zurückhaltender auch der ACS — erhoben Beschwerde beim EJPD und erreichten damit einen Aufschub der Inkraftsetzung
[36]. Die SP lancierte aber zugleich eine Petition, in der sie den Bundesrat ersuchte, keine Prämiensteigerung zu gestatten, ohne dass die Versicherungsgesellschaften über ihre Finanzen Rechnung ablegten; innert fünf Wochen konnte sie über 80 000 Unterschriften beibringen
[37]. Der Verband des Personals öffentlicher Dienste schritt gleich zu einer Verfassungsinitiative für eine bundeseigene Motorfahrzeug-Haftpflichtversicherung und erhielt die Unterstützung des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes wie auch der PdA
[38]. Bereits im Sommer hatte der sozialdemokratische TCS-Exponent Renschler in einem Postulat die Begutachtung der Versicherungstarife durch eine aus Repräsentanten aller Beteiligten zu bildende Kommission verlangt. Das EJPD hatte darauf eine Studiengruppe, in der die interessierten Kreise vertreten waren, mit der Überprüfung der Streitfrage beauftragt
[39]. Einem Begehren des Schweizerischen Konsumentenbundes entsprechend liess der Bundesrat überdies die Wettbewerbsverhältnisse in der Motorfahrzeug-Haftpflichtversicherung durch die Kartellkommission untersuchen
[40].
Die
Gleichstellung der konzessionierten Strassentransportbetriebe mit den Eisenbahnen in bezug auf Bundessubventionen, die der Nationalrat bereits Ende 1970 genehmigt hatte, wurde auch vom Ständerat gutgeheissen, ebenso die vom Nationalrat überwiesene Motion, welche das Prinzip der Abgeltung gemeinwirtschaftlicher Leistungen auf die Strassentransportdienste auszudehnen empfahl
[41]. Zur Schonung der Strassenflächen verfügte der Bundesrat, dass Stiftreifen nur noch im Winter benützt werden dürften, wobei er den Kantonen gewisse Abweichungen bei der Begrenzung der Verwendungsdauer freistellte
[42]. Weitere einschränkende Massnahmen legte ein geschärftes Umweltbewusstsein nahe: so verfügte der Bundesrat auf Vorschlag der Eidg. Kommission für Lufthygiene eine kleine Herabsetzung des zulässigen Höchstgehalts an Blei im Benzin
[43]. Die Lufthygienekommission empfahl ferner die Ersetzung der kantonalen Hubraumsteuem für Motorfahrzeuge durch eine eidgenössische Benzinsteuer, um den Anreiz zur Produktion hochtouriger Motoren mit stärker umweltschädigenden Wirkungen zu vermindern
[44]. Parlamentarische Vorstösse veranlassten den Bundesrat, sich dazu bereit zu erklären, die Vorschriften über die zulässige Abgasentwicklung der Motorfahrzeuge zu verschärfen
[45].
[26] BBI. 1971, I, S. 1373 ff. Vgl. SPJ, 1970, S. 108.
[27] Verband Schweiz. Motorlastwagenbesitzer: NZZ, 269, 14.6.71; Treuhandverband des Autotransportgewerbes: NZZ (sda), 298, 30.6.71; NR-Kommission: NZZ (sda), 399, 28.8.71; Schweiz. Gesellschaft für Umweltschutz: NZZ (sda), 397, 27.8.71; SGB und TCS: BBl, 1971, I, S. 1382.
[28] Sten. Bull. NR, 1971, S. 1192 ff.; Sten. Bull. StR, 1971, S. 766 ff. Vgl. NZZ (sda), 466, 7.10.71.
[29] NZZ, 64, 8.2.72. Von 1970 auf 1971 betrug die Zunahme nur noch 1,7 %.
[30] BBI, 1971, II, S. 1190 ff.
[31] Die Bekämpfung der Strassenverkehrsunfälle in der Schweiz, Bericht der vom EJPD ernannten Studiengruppe für die Bekämpfung der Verkehrsunfälle, (Bern) 1969.
[32] GdL, 223, 25./26.9.71; NZ, 441, 26.9.71; Automobil Revue, 42, 30.9.71.
[33] ACS: NZZ (sda), 420, 9.9.71; TCS: NZZ (sda), 437, 20.9.71; Schweiz. Strassenverkehrsverband: NZZ (sda), 541, 19.11.71. — Ständige Strassenverkehrskommission: NZZ (sda), 549, 24.11.71; Interkantonale Kommission für den Strassenverkehr: NZZ (sda), 559, 30.11.71. — Petition: NZZ (sda), 541, 19.11.71; 568, 6.12.71; NZZ, 583, 14.12.71.
[35] TA, 203, 1.9.71; NZZ (sda), 431, 16.9.71. Die Erhöhung der Haftpflichtprämien betrug durchschnittlich für Personenwagen 18 %, für Motorräder 6 %, diejenige der Motorrad-Unfallprämien 13-35 %. Eine frühere Erhöhung war auf Neujahr 1971 erfolgt (SPJ, 1970, S. 109).
[36] TCS: JdG, 218, 20.9.71; NZZ, 483, 17.10.71; SP: NZZ (sda) 443, 23.9.71; 481, 15.10.71; ACS: NZZ, 507, 31.10.71; NZZ (sda), 513, 3.11.71. Zur Haltung des ACS vgl. auch NZ, 459, 6.10.71.
[37] GdL (sda), 210, 9.9.71; Tw (upi), 210, 9.9.71; NZZ (sda), 481, 15.10.71.
[38] NZZ, 460, 4.10.71; NZZ (sda), 472, 11.10.71 (PdA) ; 505, 29.10.71 (SGB).
[39] Sten. Bull. NR, 1971, S. 1294 ff.; Touring, 45, 11.11.71.
[40] NZZ (sda), 413, 6.9.71; NZZ, 526, 11.11.71.
[41] Sten. Bull. StR, 1971, S. 58 ff.; vgl. SPJ, 1970, S. 108.
[42] AS, 1971, S. 1291 f.; NZZ (sda), 431, 16.9.71.
[44] NZZ, 551, 25.11.71; vgl. oben, S. 88.
[45] Antwort auf eine Initiative Schalcher (evp, ZH) und eine Motion der vorberatenden NRKommission; vgl. Sten. Bull. NR, 1971, S. 1245 ff.; Sten. Bull. StR, 1971, S. 713 f.
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