Année politique Suisse 1971 : Sozialpolitik / Bevölkerung und Arbeit
 
Arbeitsrecht
Beim Differenzbereinigungsverfahren über das obligationenrechtliche Arbeitsvertragsrecht war im Vorjahr kein Abschluss gefunden worden [25]. In der Frühjahrssession hielt der Ständerat mit Ausnahme des Artikels über die urheberrechtliche Nutzung von Mustern und Modellen an seinen früheren Beschlüssen fest [26]. Darauf gab der Nationalrat bis auf die Regelung der Abgangsentschädigung, wo er von zwölf bloss auf acht (statt sechs) Monate zurückging, nach [27]. Dieser Kompromiss fand die Zustimmung der Kleinen Kammer [28]. Nach fast vier Jahren parlamentarischer Behandlung konnte damit unter das neue Arbeitsvertragsrecht der Schlussstrich gezogen werden [29]. Es brachte zum Teil wesentliche Verbesserungen für den Arbeitnehmer [30]. Die Terminologie und die Differenzierungen vergangener Zeiten wurden aufgehoben: Arbeiter und Angestellte sind nun Arbeitnehmer, Dienstherren Arbeitgeber. Der Lohn muss mit einer schriftlichen Abrechnung überreicht werden. Bei Verhinderung der Arbeitsleistung wird der Lohn während drei Wochen im ersten Arbeitsjahr und während einer angemessen längeren Zeit bei mehr als einjährigem Dienstverhältnis fortbezahlt. Dabei hat der Arbeitgeber die Pflicht, die Leistungen der Sozialversicherung bis auf vier Fünftel des Lohnausfalls zu ergänzen. Bei Todesfall eines Arbeitnehmers tritt ein Besoldungsnachgenuss für ein bzw. zwei Monate in Kraft. Eine radikale Neuerung bedeutet die Einführung der Abgangsentschädigung von mindestens zwei und höchstens acht Monatsgehältern bei ausscheidenden, mindestens 50 Jahre alten Arbeitnehmern mit 20 oder mehr Jahren im gleichen Arbeitsverhältnis. Die bisher unterschiedlichen Kündigungsfristen wurden einheitlich geregelt, indem jeweils im ersten Dienstjahr eine Frist von einem Monat, vom zweiten bis zum neunten eine Frist von zwei Monaten und nachher eine dreimonatige eingehalten werden muss. Die Sperrfristen bei einer sogenannten Kündigung zur Unzeit (Krankheit, Unfall, Schwangerschaft, Niederkunft, Militärdienst) wurden erheblich verlängert. Zurückhaltend ist das Gesetz bei der Normierung der Feriendauer. Wie im Arbeitsgesetz wird ein Minimum von zwei Wochen festgesetzt, wobei die Kantone befugt sind, noch eine Woche hinzuzufügen. Lehrlinge und Jugendliche geniessen eine besondere Regelung. Neu sind schliesslich die Vorschriften über die Personalfürsorge. Nach einer fünfjährigen Dauer des Arbeitsverhältnisses besteht ein Anspruch auf Freizügigkeitsleistungen in Form eines angemessenen Anteils am Deckungskapital. Der Gegenwert der Eigenbeiträge sowie der vollen Arbeitgeberleistungen wird allerdings erst nach 30 Beitragsjahren ausbezahlt. — Nachdem Arbeitnehmerorganisationen die rasche Inkraftsetzung des neuen Arbeitsvertragsrechts gefordert hatten, entsprach ihnen der Bundesrat trotz Widerständen in Arbeitgeberkreisen [31].
Eine Übergangsbestimmung regelte die Anpassung an die neuen Normen. Die Gesamtarbeitsverträge bekamen eine Frist von einem Jahr, so dass die 1971 abgeschlossenen Abkommen in der Uhren-, Schuh- und Brauereiindustrie sogleich wieder revidiert werden müssen [32]. Diese neuen Verträge brachten u.a. die 45-Stunden-Woche, bezahlte Bildungsurlaube, Lohnerhöhungen sowie den Berufs- und Vertragsbeitrag für Nichtorganisierte. Auch Angestelltenverbände wünschten den Abschluss von Gesamtarbeitsverträgen, da sie auf Arbeitgeberseite eine erhöhte Bereitschaft hierzu feststellten [33]. Sowohl die Zentralstelle für Heimarbeit als auch die Eidg. Heimarbeitskommission befürworteten die Aufnahme der Heimarbeit in die Gesamtarbeitsverträge, nachdem ein Frauenmagazin eine viel beachtete, massive Kritik (u.a. an der schlechten Entlöhung) vorgebracht hatte [34]. Eine Kleine Anfrage Tschumi (bgb, BE) über eine Festsetzung der Mindestlöhne für Heimarbeiter beantwortete indessen der Bundesrat abschlägig [35].
 
[25] Vgl. SPJ, 1970, S. 136 f.
[26] Sten. Bull. StR, 1971, S. 62 ff.; NZZ, 104, 4.3.71; NZ, 102, 4.3.71; BN, 93, 4.3.71; Tat, 53, 4.3.71; AZ, 52, 4.3.71.
[27] Sten. Bull. NR, 1971, S. 430 ff.; NZZ, 250, 2.6.71; NZ, 244, 2.6.71; AZ, 125, 2.6.71; Tw, 125, 2.6.71; Ostschw., 125, 2.6.71; JdG, 125, 2.6.71.
[28] Sten. Bull. StR, 1971, S. 268 f.; TA, 128, 5.6.71; BN, 228, 5./6.6.71.
[29] Sten. Bull. NR, 1971, S. 960; Sten. Bull. StR, 1971, S. 474.
[30] Vgl. hierzu und zum folgenden: AS, 1971, S. 1465 ff.; AZ, 134, 12.6.71; NZ, 262, 13.6.71; Bund, 167, 21.7.71; TA, 176, 31.7.71; TdG, 209, 8.9.71; Lb, 235, 9.10.71; GdL, 295-298, 18.-22.12.71; BN, 539, 541-543, 21.-23.12.71; Lib., 69-72, 21.-25.12.71; Werkzeitung, 1, Jan. 72; Beobachter, 3, 15.2.72; 4, 29.2.72; EDWIN SCHWEINGRUBER, « Das neue Arbeitsvertragsrecht », in Gewerkschaftliche Rundschau, 64/1972, S. 33 ff.
[31] SGB: GdL (sda), 199, 27.8.71. VSA: NZZ (sda), 407, 2.9.71.
[32] NZZ (sda), 356, 3.8.71; 465, 6.10.71; 502, 28.10.71; gk, 35, 7.10.71; 38, 28.10.71.
[33] Schweiz. Kaufmännischer Verein: NZZ (sda), 470, 9.10.71; VSA: NZZ (sda), 527, 11.11.71.
[34] NZZ (sda), 428, 14.9.71; Evolution, 2/1971, Nr. 5; Ostschw., 274, 23.11.71; NZZ. 578, 11.12.71; Beobachter, 23, 15.12.71.
[35] NZZ (sda), 515, 4.11.71; Bund, 258, 4.11.71; gk, 43, 2.12.71.