Année politique Suisse 1971 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen
 
Ausländische Bevölkerung
Im Verlauf des Jahres 1971 gab das Eidgenössische Statistische Amt bereits einige Hauptergebnisse der Eidgenössischen Volkszählung vom 1. Dezember 1970 bekannt [1]. Innerhalb eines Dezenniums hatte die Wohnbevölkerung um 840 722 Einwohner, von 5 429 061 auf 6 269 783 Einwohner zugenommen. Dieses Wachstum war in erster Linie die Folge einer Immigration, vor allem aus Italien, woher mehr als die Hälfte aller Ausländer stammt. Die ausländische Bevölkerung in der Schweiz zählte Ende 1971 999 309 Personen (15,9 %), was einer Zunahme von 16 422 seit Ende 1970 entspricht. Die Zahl der Jahresaufenthalter (565 299) ging im Laufe des Jahres 1971 um 51 793 (9,1 %) zurück. Von den Jahresaufenthaltern waren 370 150 erwerbstätig (Abnahme: 40 171). Hingegen nahm der Bestand der Niedergelassenen zu, nämlich um 68 215 Personen auf total 434 010. Von diesen waren 217 005 erwerbstätig (Zunahme 34 107) [2]. Damit konnte der bundesrätlichen Stabilisierungspolitik, wie sie im Vorjahr eingeleitet worden war [3], weitgehend ein Erfolg bescheinigt werden. Wiederholt wies der Bundesrat 1971 darauf hin, dass er gewillt sei, diese Richtung konsequent einzuhalten [4]. Er unterstrich seine Absicht mit der teilweisen Verschärfung der Zuzugsbeschränkungen [5].
Das private Hauspersonal wurde nun ebenfalls den Begrenzungsmassnahmen unterstellt. Auch die Freizügigkeit blieb weiterhin eingeschränkt. Die Eidg. Fremdenpolizei wurde ermächtigt, 5000 Umwandlungsbewilligungen für die sogenannten unechten Saisonverhältnisse zu erteilen. Es geht dabei um jene ausländischen Arbeitskräfte, die nicht nur Jahr um Jahr bis zu neun Monaten in der Schweiz arbeiten, sondern bis zu elf Monaten und vielleicht noch ein oder zwei Wochen mehr.
Die Stabilisierungspolitik des Bundesrates fand namentlich von gewerkschaftlicher Seite Unterstützung [6]. Dagegen wurde sie vom Gewerbeverband und von gewissen Unternehmerkreisen kritisiert [7]. Das Problem der Saisonarbeiter, das schon früher zu Spannungen geführt hatte [8], wurde insbesondere von in- und ausländischen Gewerkschaften sowie von den Fremdarbeitern selbst aufgegriffen. Diese verlangten die Abschaffung des Saisonniersstatuts bzw. die rechtliche Gleichstellung aller Arbeitnehmer, was auch die Gewährung der Freizügigkeit implizierte [9]. Überdies forderten einige Gruppen die Revision des Einwanderungsabkommens mit Italien [10]. Bundesrat N. Celio und BIGA-Direktor A. Grübel befürworteten solche Vorstösse. Jener kündigte ein neues Einwanderungsabkommen mit Italien für Saisonarbeiter und Grenzgänger an, das Konzessionen von schweizerischer Seite enthalten werde; gleichzeitig erklärte er sich in seiner Funktion als Bundespräsident auch als Präsident der ausländischen Arbeiter [11]. A. Grübel erwog namentlich die Möglichkeit, Saisonbewilligungen für höchstens sechs Monate zu bewilligen sowie vermehrte Freizügigkeit einzuführen [12]. Die Beziehungen zu Italien blieben indessen etwas getrübt. Allerdings vereinbarten Bundesrat P. Graber und der italienische Aussenminister Moro die Wiederaufnahme der Verhandlungen der Gemischten Kommission, nachdem diese Ende 1970 abgebrochen worden waren [13]. Dagegen fand die Gemischte schweizerisch-spanische Kommission in Madrid befriedigende Lösungen für die spanischen Arbeitskräfte in der Schweiz [14]. — Zum ersten Mal traf sich eine Delegation des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) mit Delegationen der drei grössten italienischen Gewerkschaften. Sie kamen überein, einen Entwurf über gemeinsame Positionen in der Frage der ausländischen Arbeiter in der Schweiz auszuarbeiten [15].
Etwas konkretere Ergebnisse zeitigte ein Treffen des Christlichnationalen Gewerkschaftsbundes (CNG) mit seinem italienischen Pendant (CISL). Die beiden befürworteten die Bildung von lokalen Konsultativorganen zur Ermöglichung der Teilnahme der ausländischen Arbeiter an der Bildungs- und Sozialpolitik [16]. Der Bund der Schweizer Jungchristlichdemokraten schlug vor, die Integration der Ausländer durch die Einführung eines eidgenössischen Bürgerrechtes voranzutreiben [17].
Die Tätigkeit der ausländischen Arbeitnehmervereinigungen in der Schweiz liess im Verlaufe des Jahres 1971 etwas nach. Die Federazione Colonie Libere Italiane (FCLI) und die Asociación de Trabajadores Emigrantes Espafioles en Suiza (ATEES) beschlossen eine engere Zusammenarbeit [18]. Die griechischen Arbeitnehmer gründeten innerhalb des SGB eine eigene Gewerkschaft [19], Die im Kanton Tessin arbeitenden Grenzgänger wurden von den drei grössten italienischen Gewerkschaften zu einem Treffen eingeladen, das eine Organisierung zur besseren Durchsetzung von Forderungen bezweckte [20]. Die Probleme der französischen Grenzgänger waren Gegenstand der Debatte sowohl in der Öffentlichkeit als auch in offiziellen Kreisen [21].
Nach dem Abbruch der Verhandlungen der Gemischten Kommission Ende 1970 hatten die italienischen Gewerkschaften ihrer Regierung empfohlen, auf eine Suspendierung der Integrationsverhandlungen zwischen der EWG und der Schweiz zu dringen [22]. Gleichzeitig drohten sie mit Protestaktionen in der Schweiz. Darauf reagierte die schweizerische Öffentlichkeit sehr heftig: Man lasse sich durch solche anmassende Zumutungen nicht erpressen [23]. Erregung verursachte sodann der Fall S. Maurutto: dem kommunistischen Vertrauensmann und aktiven Gewerkschaftsführer, wurde wegen seiner politischen Tätigkeit die Ausweisung angedroht; er soll auch an der Auslösung eines Streiks in Genf massgeblich beteiligt gewesen sein [24]. Einen Höhepunkt erreichten die Spannungen in der Ausländerfrage, als ein betrunkener Italiener, A. Zardini, in einem Streit von einem herausgeforderten Schweizer niedergeschlagen wurde und an den Folgen seiner Verletzungen starb, ohne dass sich jemand um den Verletzten kümmerte [25]. Dieses ohne Zweifel unmenschliche Verhalten wurde indessen besonders von italienischer Seite derart verzerrt und politisch ausgeschlachtet, dass sich wiederum ein Sturm der Empörung im Blätterwald regte [26].
Vor allem lieferten solche Vorkommnisse den nationalistischen Gruppen Munition für neue Aktionen. Nationalrat Schwarzenbach begründete im März eine Interpellation, die den Bundesrat um Auskunft ersuchte, wie er den bestehenden Gesetzen über die politische Aktivität der Ausländer in der Schweiz Nachachtung zu verschaffen gedenke. Nachdem Bundesrat von Moos geantwortet hatte, wurde eine Diskussion von der Ratsmehrheit abgelehnt [27]. Von der Initiative, die Schwarzenbach im Herbst 1970 lanciert hatte [28], hörte man nichts mehr. Dagegen beschloss die extremere Nationale Aktion im Frühjahr, mit einem neuen Volksbegehren gegen die Überfremdung und Übervölkerung an die Öffentlicheit zu treten. Es forderte eine Beschränkung der Ausländerzahl auf eine halbe Million und eine obere Begrenzung der jährlichen Neueinbürgerungen auf 4000 [29]. Schwarzenbach distanzierte sich, aber später kündigte er die Möglichkeit der Unterstützung an, falls der Bundesrat keinen wirksameren Abbauvorschlag vorlege [30]. Indessen scheint diese «3. Überfremdungsinitiative» keine grosse Resonanz bewirkt zu haben. Im Zusammenhang mit dieser Initiative und unter dem Eindruck des Falles Zardini ersuchten 25 Mitglieder des Schriftstellerverbandes der italienischen Schweiz den Bundesrat, eine Studie über die schweizerische Xenophobie zu unterstützen [31]. Die 1970 eingesetzte Konsultativkommission zur Behandlung des Überfremdungsproblems gab noch keine Ergebnisse bekannt [32]; sie wurde von der Nationalen Aktion unter Beschuss genommen, da deren Interessen darin zu wenig wirksam vertreten seien [33].
 
[1] Vgl. Statistisches Jahrbuch der Schweiz, 79/1971, S. 13 ff.
[2] Vgl. Bund, 65, 17.3.72; vgl. auch SPJ, 1970, S. 129 f.
[3] Vgl. SPJ, 1970, S. 129 ff.
[4] NZ, 20, 14.1.71; JdG, 10, 14.1.71; NZZ, 269, 14.6.71; Documenta Helvetica, 1971, Nr. 1, S. 93; Nr. 5, S. 41; Nr. 7, S. 4 f.; Gewerbliche Rundschau, 16/1971, S. 138.
[5] AS, 1971, S. 421 ff.; NZ, 181, 22.4.71; Bund, 92, 22.4.71; GdL, 92, 22.4.71; Vat., 92, 22.4.71; NZN, 94, 24.4.71; Schweizerische Handelszeitung, 18, 6.5.71; TdG, 118, 24.5.71.
[6] SGB: NZZ, 155, 2.4.71; gk, 26, 15.7.71; AZ, 289, 10.12.71. Genfer Delegierte des Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiter-Verbandes (SMUV): TdG, 267, 16.11.71; gk, 42, 25.11.71. VSA: NZZ (sda), 228, 18.5.71.
[7] Schweizerische Gewerbe-Zeitung, 20, 14.5.71; 23, 4.6.71. Gewerbliche Rundschau, 16/1971, S. 60 f.; NZZ, 282, 21.6.71; 292, 27.6.71; 304, 4.7.71; Tw, 146, 26./27.6.71.
[8] SPJ, 1970, S. 134.
[9] SGB: NZZ (sda) 155, 2.4.71. VSA: ebd., 228, 18.5.71. Schweizerischer Bau- und Holzarbeiterverband: siehe S. 185, Anm. 107. CNG zusammen mit der italienischen Gewerkschaft CISL: NZZ (afp), 482, 16.10.71. Spanische Arbeiter in der Schweiz: TdG, 118, 24.5.71. Die 3 grössten italienischen Gewerkschaften CGIL, CISL u. UIL: Bund, 7, 11.1.71; NZZ (ap), 199, 28.4.71.
[10] Die 3 italienischen Gewerkschaften CGIL, CISL u. UIL: NZZ, 122, 15.3.71; TdG, 114, 18.5.71; GdL, 115, 19.5.71; JdG, 115, 19.5.71. Aussenpolitische Kommission der italienischen Kammer: AZ, 104, 6.5.71; NZN, 107, 10.5.71.
[11] NZZ, 574, 9.12.71.
[12] Documenta Helvetica, 1971, Nr. 6, S. 13 ff.; Nr. 11, S. 39 ff.; vgl. auch Gewerbliche Rundschau, 16/1971, S. 139 f.
[13] NZZ, 283, 22.6.71; Bund, 142, 22.6.71; TdG, 142, 22.6.71; 147, 28.6.71. Vgl. auch SPJ, 1970, S. 135 f.
[14] Bund, 51, 3.3.71; gk. 10, 4.3.71.
[15] Mitteilung des SGB, Bern, 6.12.71; AZ, 208, 2.9.71; 289, 10.12.71; NZZ (sda), 609, 30.12.71; gk, 1, 6.1.72. Zu einem schweizerisch-jugoslawischen Gewerkschaftertreffen, vgl. gk, 21, 27.5.71; 30, 2.9.71; NZZ (sda), 415, 7.9.71.
[16] NZZ (afp), 482, 16.10.71.
[17] Ausländer, Bürger wie wir, Sion 1971; Vat., 117, 22.5.71; NZN, 118, 24.5.71; JdG, 126, 3.6.71; 134, 12./13.6.71; TdG, 127, 4.6.71.
[18] NZZ. 443, 23.9.71.
[19] Siehe unten, S. 186.
[20] NZZ, 218, 12.5.71; AZ, 111, 14.5.71.
[21] Grosser Rat von GE: JdG, 107, 10.5.71; 113, 17.5.71. Verhandlungen zwischen Frankreich und der Schweiz: JdG, 199, 27.8.71; TA, 246, 21.10.71. Vgl. ferner auch: NZZ, 35, 10.1.71; NZZ, (afp), 224, 16.5.71; NZ, 240, 30.5.71; TdG, 209, 8./9.9.71; 210, 10.9.71; 212, 13.9.71; 213, 14.9.71.
[22] Vgl. SPJ, 1970, S. 135.
[23] Bund, 7, 11.1.71; Tw, 8, 12.1.71; Vat., 9, 13.1.71; JdG, 9, 13.1.71; Lb, 10, 13.1.71; gk, 2, 14.1.71.
[24] Vgl. TdG, 117, 22./23.5.71; 123, 29./30.5.71; 124, 1.6.71; NZ, 233, 26.5.71; Tat, 123, 27.5.71; Bund, 122, 28.5.71; 281, 1.12.71; VO, 120, 28.5.71 u. ff.
[25] NZ, 134, 23.3.71; NZZ, 138, 141 u. 142, 24.-26.3.71; AZ, 69, 24.3.71; 70, 25.3.71.
[26] NZZ, 140, 25.3.71; AZ, 73, 29.3.71; Vat., 73, 29.3.71; NBüZ, 90, 29.3.71; Lb. 81, 7.4.71; gk, 17, 29.4.71; Volk +Heimat, 6/1971, Nr. 7.
[27] Verhandl. B.vers., 1971, I/II, S. 58; NZ, 125, 18.3.71; AZ, 64, 18.3.71; Der Republikaner, 5, 7.4.71.
[28] Vgl. SPJ, 1970, S. 134.
[29] NZZ, 146, 29.3.71; 153, 1.4.71; NBüZ, 93, 31.3.71; NZ, 149 u. 150, 1.4.71; St. Galler Tagblatt, 76, 1.4.71; NZN, 76, 1.4.71; Volk+Heimat, 6/1971, Nr. 5.
[30] Der Republikaner, 6, 29.4.71; 15, 5.11.71; NZZ, 525, 10.11.71; Volk +Heimat, 6/1971, Nr. 5.
[31] NZZ, 229, 19.5.71; AZ, 117, 22.5.71; NZN, 119, 25.5.71.
[32] Vgl. NZZ (sda), 74, 15.2.71; CHARLES-F. DUCOMMUN, « Probleme der ausländischen Arbeitskräfte », in Gewerkschaftliche Rundschau, 63/1971, S. 65 ff.; SPJ, 1970, S. 133 f.
[33] Volk +Heimat, 6/1971, Nrn. 1 u. 4.