Année politique Suisse 1971 : Bildung, Kultur und Medien / Bildung und Forschung
Allgemeine Bildungspolitik
Die allgemeine Bildungspolitik war 1971 durch drei wichtige Ereignisse bestimmt: das EDI legte Vorentwürfe für die Neufassung des Bildungsartikels 27 und für einen Forschungsartikel 27bis der Bundesverfassung vor
[1]; eine Arbeitsgruppe unter Leitung Professor Kneschaureks veröffentlichte « Perspektiven des schweizerischen Bildungswesens»
[2], und das von der Erziehungsdirektorenkonferenz ausgearbeitete Konkordat für die Schulkoordination wurde rechtskräftig
[3].
Das Vernehmlassungsverfahren über den Entwurf des EDI verlief insofern positiv, als sich ausser den Waadtländer Liberalen alle angefragten Gruppen (Kantone, Parteien und interessierte Organisationen) für eine Neufassung des
Bildungsartikels aussprachen. Über den materiellen Gehalt einer Revision gingen jedoch die Meinungen weit auseinander
[4]. Wesentliches Anliegen des Entwurfs war es, Bemühungen der Kantone um eine Verstärkung ihrer Zusammenarbeit durch Erweiterung der Verantwortung des Bundes zu sichern und zu ergänzen. Die vorgenommene Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Kantonen auf den einzelnen Bildungsstufen — Zuständigkeit der Kantone auf der Vor- und Volksschulstufe, jedoch Pflicht zur Koordination und Festlegung der obligatorischen Schuldauer durch den Bund; Zuständigkeit des Bundes für das Mittelschulwesen, die höhere Ausbildung, die Weiter- und Erwachsenenbildung — stiess auf Kritik hauptsächlich aus zwei Richtungen. Auf der einen Seite verwahrten sich einzelne Kantone gegen jeglichen Eingriff des Bundes in die kantonale Schulhoheit auf der Volksschulstufe
[5]. Anderseits sprachen sich der Wissenschaftsrat und weitere Organisationen für eine Ausdehnung der Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes auf alle Bildungsstufen aus. Dadurch sollte die Einheit des Bildungswesens betont und eine Erhaltung von Strukturen, die unter Berufung auf moderne pädagogische Erkenntnisse als überholt empfunden wurden, verhindert werden
[6]. Die Aufnahme einer Bestimmung über den Zweck des Bildungswesens in den Entwurf fand bei einer Mehrheit der Vernehmlassungen keine Anerkennung; umgekehrt erhoben mehrere Gruppen erneut die Forderung nach einer Verankerung des Rechts auf Bildung in der Verfassung
[7]. In der Folge befasste sich eine Expertenkommission unter dem Vorsitz von Bundesrat Tschudi mit den durch das Vernehmlassungsverfahren aufgeworfenen Fragen, ohne bis Jahresende einen bereinigten Entwurf vorlegen zu können
[8].
Die « Perspektiven des schweizerischen Bildungswesens » setzten sich kritisch mit dem Ist-Zustand auseinander und hielten fest, dass die Schweiz seit dem Zweiten Weltkrieg nur unzureichende Anstrengungen für die Anpassung des Bildungswesens an die Erfordernisse einer sich rasch wandelnden Welt unternommen habe
[9]. Zur Deckung eines überdurchschnittlich ansteigenden Bedarfs an qualifizierten Arbeitskräften schlug die Arbeitsgruppe eine Förderung des Frauenstudiums, eine bessere Ausbildung der ausländischen Arbeitskräfte, eine ständige Weiterbildung der im Erwerbsleben Stehenden, eine Reduzierung der Schulversager durch Schul- und Studienreform und eine Aufwertung der Berufslehre vor
[10]. Die Perspektiven trugen dazu bei, die Diskussionen über Bildungspolitik in der Öffentlichkeit zu versachlichen, indem sie wissenschaftlich fundierte Grundlagen lieferten
[11].
[1] Wortlaut des Entwurfs in BBI, 1971, II, S. 1016 ff.
[2] Arbeitsgruppe Perspektivstudien (F. Kneschaurek), Entwicklungsperspektiven der schweizerischen Volkswirtschaft bis zum Jahre 2000, Teil IV : Perspektiven des schweizerischen Bildungswesens, St. Gallen 1971, zitiert: Perspektiven.
[4] Zum folgenden vgl. BBI, 1971, II, S. 1019 ff.
[5] TG (NZZ, 332, 20.7.71); SG (TA, 166, 20.7.71); BS (BN, 299, 21.7.71); LU (NZZ, 335, 22.7.71); AR (TA, 170, 24.7.71); SO (NZZ, 348, 29.7.71).
[6] Wissenschaftsrat (Wissenschaftspolitik. 5/1971, Heft 3, S. 29 ff.); SP (BBI, 1971, II, S. 1021); LdU (ebenda); SGB (NZZ, sda, 303, 3.7.71; gk, 28, 12.8.71); Verband der Schweiz. Studentenschaften (NZ, 338, 27.7.71); Gesellschaft für Hochschule und Forschung (Lb, 177, 3.8.71); Verband Schweiz. Mittelschüler (NZZ, sda, 359, 5.8.71); Schweiz. Liberaler Studentenverband (NZZ, 367, 10.8.71); Schweiz. Gemeinnützige Gesellschaft (NZZ, 377, 16.8.71).
[7] Vgl. SPJ, 1970, S. 146; diese Verankerung verlangten die Kantone AG (NZ, 398, 31.8.71); BL (BBI, 1971, II, S. 1024); ferner die CVP (ebenda); SP (ebenda); SGB; CNG (ebenda, S. 1025); Schweiz. Liberaler Studentenverband; Verband Schweiz. Mittelschüler; Verband der Schweiz. Studentenschaften. Gegen ein Recht auf Bildung sprachen sich der Vorort und der Zentralverband schweiz. Arbeitgeber-Organisationen aus (NZ, 338, 27.7.71; NZZ, sda, 338, 23.7.71).
[8] TA. 304, 29.12.71. Entwurf und Botschaft in BBI, 1972, I, S. 375 ff.
[9] NZZ, 328, 18.7.71; NZ. 356, 6.8.71; 360, 9.8.71. Vgl. Perspektiven, S. 91 u. S. 81 f.
[10] Perspektiven, S. 128 ff.
[11] Material zur Bildungsdiskussion in La Suisse au-devant de l'éducation permanente, Lausanne 1971; Civitas, 26/1970-1971, H. 12, Sonderheft Bildungspolitik; Schulprobleme, Zürich 1970 (Dossier Schweiz); NZZ, 61, 7.2.71; 304, 4.7.71.
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