Année politique Suisse 1971 : Bildung, Kultur und Medien / Bildung und Forschung
 
Forschung
Da der Bund noch keine verfassungsmässige Grundlage für eine allgemeine Forschungspolitik besitzt, legte der Bundesrat mit dem Bildungsartikel 27 auch einen Artikel 27bis vor, der eine Bundeskompetenz zur Förderung der Forschung im allgemeinen Interesse des Landes sowie zur Errichtung eigener Forschungsstätten begründen soll [82]. Gegen das Vorhaben sprach sich einzig die Hochschulrektorenkonferenz aus, die im Hinblick auf die Einheit von Lehre und Forschung an den Hochschulen einen einzigen Artikel empfahl [83]. Indessen erschwerte die Vielfältigkeit des Hochschulwesens und die Tatsache, dass rund 70 % der schweizerischen Forschungsaufwendungen durch die Privatwirtschaft getragen werden, aber auch das Fehlen von artikulierten Bedürfnissen der Wissenschaft und der Wirtschaft die Formulierung von Grundsätzen für die Forschungsförderung durch den Bund [84]. Die Erhebung über die dringlichen Forschungsbedürfnisse in der Schweiz, die der Wissenschaftsrat im Verlaufe des Jahres auswertete, soll dazu das erforderliche Grundlagenmaterial liefern [85]. Eine Arbeitsgruppe des Wissenschaftsrats prüfte ferner einen Bericht der Kommission Allemann über ein neues Konzept für die Förderung der wirtschaftlich motivierten Forschung durch den Bund, das ebenfalls in eine Neukonzeption der nationalen Forschungsförderung integriert werden soll [86].
Als besonderes Informationsinstrument der zuständigen Bundesorgane wurde bei der Eidg. Parlaments- und Zentralbibliothek eine Dokumentationsstelle für Wissenschaftspolitik errichtet. Diese sollte insbesondere auch der Intensivierung einer Zusammenarbeit mit den Dokumentationsstellen des Europarats und der OECD dienen [87]. Die Kontakte mit der OECD verstärkten sich. Die schweizerische Wissenschaftspolitik wurde von dieser Organisation einer Prüfung unterzogen, deren Ergebnis eine schweizerische Delegation im Frühling mit Vertretern der OECD besprachen; auf schweizerischer Seite wies man speziell auf die Probleme hin, die sich für unsere Wissenschaftspolitik aus der föderativen Staatsstruktur ergeben [88]. Eine Konferenz der Wissenschaftsminister der OECD betonte, dass sich die Forschung vermehrt der Umwelt, dem Gesundheitswesen, dem Bildungswesen und dem Städtebau zuwenden sollte [89]. Diese Neuorientierung entsprach den von Vertretern der schweizerischen Forschungspolitik wiederholt geäusserten Grundsätzen [90]. Die Vorbereitungen für ein Institut für Konfliktforschung und Friedenssicherung wurden weitergeführt ; der Bundesrat leitete eine von Botschafter Ganz ausgearbeitete Projektstudie dem Wissenschaftsrat und der Zentralstelle für Gesamtverteidigung zur Stellungnahme zu [91]. Für den weiteren Ausbau der eidgenössischen landwirtschaftlichen Forschungsanstalten bewilligten die Räte Kredite von rund 100 Mio Fr. [92]. Der Bundesrat anerkannte die Schweizerische Osteuropa-Bibliothek in Bem und das Institut für experimentelle Krebsforschung in Lausanne als Institutionen, die aus den für die Hochschulförderung bereitgestellten Bundesmitteln subventioniert werden sollen [93].
Die europäische Zusammenarbeit machte namentlich auf den Gebieten der Hochenergiephysik und der Raumfahrt Fortschritte. Die Entwicklung, die sich im vorangegangenen Jahr in der Frage des Standorts des Super-CERN-Projekts angebahnt hatte [94], kam zum Abschluss: der Rat der europäischen Organisation für kernphysikalische Forschung (CERN) beschloss den Bau der Anlagen in Meyrin [95]. Auf Antrag des Bundesrates stimmten die Räte in der Folge einer Beteiligung der Schweiz am Super-CERN zu und bewilligten den notwendigen Verpflichtungskredit für Landerwerb und Ausbau der Infrastruktur [96]. Diese Beteiligung der Schweiz am Super-CERN stand in engem Zusammenhang mit der schwerpunktmässigen Förderung der Hochenergiephysik auch auf nationaler Ebene. Die Bauarbeiten am Schweizerischen Institut für Nuklearforschung in Villigen (AG) konnten planmässig weitergeführt werden ; die Forschung soll 1974 beginnen [97]. Der Bundesrat genehmigte eine von einer Expertenkommission ausgearbeitete Verordnung über die Organisation und den Betrieb des Eidgenössischen Instituts für Reaktorforschung; neben den Forschungsarbeiten über schnelle Brutreaktoren sollten Fragen der. nuklearen Sicherheit und des Umweltschutzes im Zusammenhang mit dem Bau von Atomkraftwerken studiert und die Ausbildungstätigkeit erweitert werden [98]. Schwierigkeiten in der europäischen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Raumforschung [99] konnten mit der Verabschiedung neuer Richtlinien der Europäischen Organisation für Weltraumforschung (ESRO) überwunden werden. Ein obligatorisches wissenschaftliches Minimalprogramm sollte durch die Entwicklung eines Flugsicherungs-, eines Wetterbeobachtungs- und eines Fernmeldesatellitensystems ergänzt werden. Eine Vorlage über die Beteiligung der Schweiz wurde in Aussicht gestellt [100] .Der Bundesrat unterzeichnete schliesslich fünf Übereinkommen der europäischen Ministerkonferenz für Wissenschaft und Technologie (COST), die vor allem den Aufbau eines Informationsnetzes und Fragen des Umweltschutzes betrafen [101].
top
R.G.
 
[82] BBI, 1971, II, S. 1017.
[83] Ebenda, S. 1025 ff.; mehrere Vernehmlassungen forderten, dass im Forschungsartikel die Bildungsforschung namentlich erwähnt werde. Zum Stand der Bildungsforschung vgl. Institut romand de recherches et de documentation pédagogiques, Enquête sur l'état de la recherche pédagogique en Suisse, Neuchâtel 1971.
[84] KARL SCHMID, « Probleme der schweizerischen Wissenschaftspolitik », in Wissenschaftspolitik, 5/1971, H. 4., S. 12 ff.
[85] Vgl. SPJ, 1970, S. 157. Gesch.ber., 1971, S. 82. Orientierung über den Stand der Arbeiten in Wissenschaftspolitik, 1972, Nr. 1, S. 11 ff.
[86] Gesch.ber., 1971, S. 220 f.; Schweizerischer Wissenschaftsrat, Jahresbericht 1971, S. 29. Der BR erhöhte den Zusicherungskredit der Kommission von 2,5 auf 3 Mio Fr.: NZZ, 474, 12.10.71.
[87] NZZ, 140, 25.3.71.
[88] OCDE, Politiques nationales de la science, Suisse, Paris 1971; Wissenschaftspolitik, 1972, Nr. 1, S. 72 f.; JdG, 99, 30.4.71; NZZ, 194, 28.4.71; 200, 2.5.71.
[89] Wissenschaftspolitik, 5/1971, H. 3, S. 49 ff.
[90] Vgl. SPJ, 1970, S. 157 f.; Gesch.ber., 1971, S. 80. Vgl. auch Postulat Reimann (cvp, AG): Sten. Bull. StR, 1971, S. 759; Postulat Grünig (fdp, AG): Sten. Bull. NR, 1971, S. 1601.
[91] NZZ, 71, 12.2.71; NZZ (sda), 259, 8.6.71. Vgl. SPJ, 1970, S. 157. Zur Diskussion in der Öffentlichkeit vgl. NZ, 88, 23.2.71; 465, 10.10.71; 477, 17.10.71; 482, 20.10.71; 489, 24.10.71; 603, 31.12.71; SJ, 22, 29./30.5.71; TA, 148, 29.6.71; Tw, 245, 20.10.71; Lb, 191, 19.8.71; 286, 8.12.71.
[92] Sten. Bull. StR, 1971, S. 738 ff.; Sten. Bull. NR, 1971, S. 1567 ff. Botschaft BR in BBI, 1971, II, S. 557 ff.; Bundesbeschluss in BBI, 1971, II, S. 2012 f. Vgl. oben., S. 95.
[93] NZZ, 183, 22.4.71; NZZ (sda), 297, 30.6.71.
[94] Vgl. SPJ, 1970, S. 157.
[95] JdG, 42, 20./21.2.71. Kostenvoranschlag 1125 Mio Fr., Anteil der Schweiz 3 %.
[96] Botschaft BR in BBI, 1971, I, S. 915 ff.; Beschluss StR: Sten. Bull. StR, 1971, 5.206 ff.; 349; Beschluss NR: Sten. Bull. NR, 1971, S. 453 ff.; 650.
[97] Vgl. SPJ, 1967, S. 124; Gesch.ber., 1971, S. 84 f.
[98] Vgl. SPJ; 1969, S. 137; Gesch.ber., 1971, S. 84; NZZ (sda), 475, 12.10.71. Zur im StR geforderten Zusammenarbeit von SIN und EIR vgl. Sten. Bull. StR, 1971, S. 251 ff.
[99] Vgl. SPJ, 1968, S. 127.
[100] Gesch.ber., 1971, S. 21; NZZ, 327, 17.7.71; 428, 14.9.71. Vgl. dazu Interpellation Wartmann (fdp, AG): Sten. Bull. NR, 1971, S. 455 ff.
[101] NZZ (sda), 551, 25.11.71.