Année politique Suisse 1972 : Infrastruktur und Lebensraum / Energie
 
Kernenergie
Im Mittelpunkt der energiepolitischen Auseinandersetzungen stand der Bau weiterer Atomkraftwerke. Sechs konkrete Projekte lagen vor, und alle begegneten in den betroffenen Regionen einer entschiedenen Opposition, so dass das Bewilligungsverfahren in keinem Fall abgeschlossen werden konnte. Die Gegner argumentierten einerseits mit der Gefahr radioaktiver Strahlung, insbesondere bei Unfällen und bei einer unbeschränkten Vermehrung der Kraftwerkanlagen, anderseits mit den Auswirkungen der für die meisten Projekte vorgeschriebenen Kühltürme auf Klima und Landschaftsbild [9]. Demgegenüber betonten die Vertreter der Behörden und der Elektrizitätswirtschaft, dass Atomenergie die Umwelt weniger belaste als die übrigen in Frage kommenden Energieträger und dass alle notwendigen Sicherheitsvorkehren getroffen würden [10]. Im Vordergrund stand der Kampf um das Werk von Kaiseraugst (AG) : hier verweigerte der Gemeinderat aufgrund einer konsultativen Abstimmung in der Gemeindeversammlung die Baubewilligung, und als die aargauische Regierung eine Beschwerde des interessierten Konsortiums gegen die Verweigerung guthiess, wurde dieser Entscheid nicht nur von den Gemeinden Kaiseraugst und Rheinfelden, sondern auch vom Kanton Baselstadt beim aargauischen Verwaltungsgericht angefochten [11]. Für das Projekt in Leibstadt (AG), das zweite am nördlichen Rheinabschnitt, genehmigte die zuständige Gemeindeversammlung vorerst die erforderliche Planung einer Industriezone, doch wurden in der Umgebung ablehnende Eingaben und Petitionen organisiert [12]. Die zur Prüfung der Kühlturmpläne vom EVED 1971 eingesetzte Kommission gab für beide aargauischen Projekte ihre Zustimmung, desgleichen für die an der Aare vorgesehenen Werke von Gösgen (SO) und Graben (BE) ; auch diese letzteren erhielten vom EVED die Standortgenehmigung [13]. Günstig sprach sich das zuständige Departement ferner zum Projekt Verbois an der Rhone unterhalb Genfs aus [14]. Gegen den Plan eines Werkes in Rüthi im sanktgallischen Rheintal regte sich der Widerstand zu beiden Seiten der Landesgrenze ; Österreich brachte in Diplomaten- und Expertengesprächen Einwände vor, und eine liechtensteinische Regierungsdelegation konferierte mit einer sankt-gallischen [15].
Von befürwortender wie von gegnerischer Seite wurde ein Entscheid auf eidgenössischer Ebene anvisiert. Ein von der bernischen Regierung eingeholtes Rechtsgutachten vertrat zwar die Auffassung, dass eine vom Bund erteilte Atomkraftwerkkonzession durch kantonale oder kommunale Beschlüsse nicht vereitelt werden dürfe ; trotzdem wurde eine entsprechende Neufassung des Atomenergiegesetzes gewünscht, und der Bundesrat zeigte sich einer solchen geneigt [16]. Anderseits drohten gegnerische Kreise mit einer eidgenössischen Volksinitiative für ein Verbot des Atomkraftwerkbaus in dichtbesiedelten Gebieten [17]. Aus der Nordwestschweiz wurde der Bundesrat aufgefordert, eine interdisziplinäre Kommission mit der Standortsplanung zu betrauen ; er antwortete darauf mit dem Hinweis auf die zahlreichen Organe, die er zu dieser Planung schon eingesetzt hatte [18]. Dass die Verwendung der Atomenergie wesentliche internationale Aspekte hat, kam in einem Vertrag zum Ausdruck, den die Schweiz mit den USA und der Internationalen Atomenergie-Agentur abschloss und der die Überwachung des spaltbaren Materials, die bisher die USA als liefernder Staat selber durchgeführt hatten, an die Agentur übertrug [19].
 
[9] Vgl. Interviews von John W. Gofman in TA, 38, 15.2.72 u. AZ, 39, 16.2.72 ; ferner Ralph Graeub, Die sanften Mörder, Atomkraftwerke demaskiert, Rüschlikon 1972 ; Werner Zimmermann, Bis der Krug bricht, Bern 1972 ; Postulat Jauslin (fdp, BL) (Amtl. Bull. StR, 1972, S. 149 ff.), Kleine Anfrage Oehen (na, BE) (Amtl. Bull. NR, 1972, S. 1862). Vgl. auch NZZ, 43, 26.1.72 ; NZ, 111, 8.3.72 ; 174, 17.4.72 ; JdG, 292, 13.12.72 ; ferner SPJ, 1971, S. 97 f.
[10] Vgl. Stellungnahmen des BR (Amtl. Bull. StR, 1972, S. 153 ff. ; Amtl. Bull. NR, 1972, S. 1373, 1862 f., 2123 ff.) und Schweizerische Vereinigung für Atomenergie, Kernenergie, Sicher, sauber, unentbehrlich, unerschöpflich, Bern 1971.
[11] NZZ, 277, 16.6.72 ; Vat., 142, 21.6.72 ; NZ, 439, 28.11.72 ; TA, 302, 28.12.72. Vgl. auch NZ, 218, 17.5.72.
[12] NZ, 111, 8.3.72 ; 450, 8.12.72 ; NZZ (sda), 593, 19.12.72.
[13] Kühlturmkommission : NZ, 219, 18.5.72 (Kaiseraugst) ; NZZ (sda), 273, 14.6.72 (Leibstadt) ; NZZ (sda), 499, 25.10.72 (Gösgen und Graben). Standortgenehmigungen : NZZ (sda), 518, 6.11.72. Opposition gegen Gösgen : NZZ, 577, 10.12.72 ; TA, 296, 19.12.72 ; gegen Graben : Tw, 258, 2.11.72 ; 301, 22.12.72. Vgl. SPJ, 1971, S. 98.
[14] Stellungnahme des EVED : GdL (sda), 240, 13.10.72. Opposition : TG, 252, 27.10.72 ; TA, 304, 30.12.72.
[15] Gespräche mit Österreich : NZZ (sda), 317, 10.7.72 ; 510, 1.11.72 ; Ostschw., 258, 2.11.72. Gespräch mit Liechtenstein : NZZ (sda), 369, 10.8.72. Opposition im Kt. SG : Ostschw., 105, 5.5.72 ; 201, 28.8.72 ; in Vorarlberg : Ostschw., 249, 23.10.72 ; 285, 4.12.72.
[16] Vgl. Postulat Rothen (sp, SO) und Antwort des BR : Amtl. Bull. NR, 1972, S. 1838 ff., 2125.
[17] NZZ, 43, 26.1.72 ; Amtl. Bull. NR, 1972, S. 1372.
[18] Vgl. Schreiben der Regierung von BL (NZ, 228, 27.5.72), Vorsprache einer Delegation des Landrats von BL (NZZ, sda, 372, 11.8.72), Resolution des Grossen Rates von BS (BN, 232, 30.6.72) und Antwort auf Motion Jaeger (Idu, SG) (Amtl. Bull NR, 1972, S. 2124 f.).
[19] NZZ, 99, 28.2.72. Vgl. SPJ, 1966, S. 73, Anm. 27.