Année politique Suisse 1972 : Infrastruktur und Lebensraum / Energie
 
Wasserkraft
Auch im Bereich der Nutzbarmachung der Wasserkräfte sahen sich Behörden und Energiewirtschaft weiterhin gegnerischen Tendenzen gegenüber. Die Opposition gegen den Bau eines vergrösserten Werks bei Bremgarten, das in die Gesamtplanung für das untere Reusstal aufgenommen worden war, gab sich noch nicht geschlagen, als der aargauische Grosse Rat ihre Initiative für eine freie Reuss, dem Regierungsantrag folgend, als verfassungswidrig bezeichnete. Sie erhob Beschwerde beim Bundesgericht, doch dieses teilte die Rechtsauffassung, dass ein Volksbegehren die Erteilung einer Kraftwerkkonzession nicht aufzuheben vermöge. Eine Unterschriftensammlung für die Abberufung des Grossen Rates, der ohnehin 1973 neu zu bestellen war, verlief ergebnislos [20]. Auf Ablehnung stiess ferner eine an die Landesregierung gerichtete Petition gegen die Ableitung von Wasser aus der Seez für ein Speicher- und Pumpspeicherwerk im St. Galler Oberland ; der Bundesrat schützte die vom Kanton bereits erteilte Konzession, betonte aber, dass der Wasserhaushalt des Seeztals durch sie stark belastet werde [21].
Nicht das Verhältnis zwischen Energieproduktion und Umwelterhaltung, sondern die sozialpolitische Problematik der ausländischen Saisonarbeiter bildete den politischen Hintergrund der gerichtlichen Behandlung der Baukatastrophe von Mattmark (VS) im Jahre 1965, bei der ein Gletscherabsturz zum Tod von 88 Personen, darunter 56 Italienern, geführt hatte [22]. Sowohl das Oberwalliser Kreisgericht wie das Walliser Kantonsgericht sprach die Vertreter der am Kraftwerkbau beteiligten Firmen und die Beamten der Kontrollbehörden von der Anklage der fahrlässigen Tötung frei, weil das Naturereignis als nicht voraussehbar betrachtet wurde. In der italienischen Öffentlichkeit und in vorwiegend linksgerichteten schweizerischen Kreisen erhob sich gegen dieses Urteil scharfe Kritik, namentlich als die zweite Instanz den Zivilklägern nach Walliser Brauch einen Teil der Berufungskosten auferlegte ; es fiel der Vorwurf der Klassenjustiz [23]. In einer Interpellation drang der Präsident des schweizerischen Bau- und Holzarbeiterverbandes, Nationalrat Canonica (sp, ZH), auf strengere Sicherheitsmassnahmen bei Grossbauten im Gebirge ; er nahm auch Anstoss an der späten Durchführung des Prozesses, welche die Appellationsmöglichkeiten behinderte [24].
 
[20] Grossratsentscheid : Vat., 97, 26.4.72. Bundesgerichtsentscheid : NZZ, 510, 1.11.72. Abberufungsinitiative : Vat., 103, 3.5.72 ; 186, 11.8.72. Vgl. SPJ, 1971, S. 97.
[21] Antwort auf Kleine Anfrage Akeret (svp, ZH) : Amtl. Bull. NR, 1972, S. 1864 ; vgl. auch NZZ (sda), 32, 20.1.72 ; TA, 62, 14.3.72 ; NZZ, 211; 7.5.72 ; Ostschw., 151, 30.6.72.
[22] TA, 241, 16.10.72 ; Bund, 261, 6.11.72. Vgl. SPJ, 1966, S. 72, Anm. 21.
[23] Urteile und schweizerische Reaktionen : Ww, 9, 1.3.72 ; AZ, 53, 3.3.72 ; 56, 7.3.72 ; 67, 20.3.72 ; 246, 19.10.72 ; NBüZ, 70, 3.3.72 ; TA, 53, 3.3.72 ; VO, 53, 3.3.72 ; 54, 4.3.72 ; 247, 24.10.72 ; BN, 165, 20.4.72 ; NZZ (sda), 465, 5.10.72 ; Tw, 240, 12.10.72 ; vgl. auch Kleine Anfrage Reich (rep., ZH) : Amtl. Bull. NR, 1972, S. 1350. Italienische Reaktionen : Vat., 55, 6.3.72 ; GdL, 57, 8.3.72 ; NZZ, 470, 9.10.72 ; vgl. auch oben, S. 11. Berufungskosten : Vat., 235, 9.10.72 ; NZZ (sda), 477, 12.10.72.
[24] Verhandl. B.vers., 1972, I/II, S. 62, ferner gk, 10, 9.3.72 ; 2, 11.1.73. Zur Frage einer Appellation ans Bundesgericht vgl. TLM, 334, 29.11.72.