Année politique Suisse 1972 : Infrastruktur und Lebensraum / Verkehr und Kommunikation
Agglomerationsverkehr
Eine der nicht länger aufschiebbaren Aufgaben bildet die Bewältigung des Agglomerationsverkehrs. Parlamentarische Vorstösse drangen auf den Einsatz von Bundesbeiträgen, insbesondere für den Bau von Verbindungsstrecken zum Nationalstrassennetz sowie für die Entwicklung der öffentlichen Verkehrsmittel, wobei wiederum auf die Treibstoffzölle als Finanzquelle hingewiesen wurde. Bundesrat Bonvin sprach sich jedoch gegen den Erlass blosser Subventionsgesetze aus und betonte die Notwendigkeit einer verfassungsrechtlichen Abgrenzung der Verantwortlichkeit zwischen Bund und Kantonen, wobei er, von gewissen Hauptverkehrsadern abgesehen, einer föderalistischen Lösung den Vorzug gab ; er kündigte im übrigen eine Konsultierung der Kommission für die Gesamtverkehrskonzeption an
[6].
Als besonders dringlichen Fall anerkannte die Landesregierung die Lage in
Zürich : sie erklärte sich auf Vorschlag der Kantons- und Stadtbehörden bereit, die Finanzierung der sog. Zürichberglinie, die als SBB-Strecke das Stadtzentrum mit dem östlichen Teil der Region verbinden soll, zu übernehmen, wenn die gleichfalls geplante Untergrundbahn Kloten-Dietikon vom Kanton und den interessierten Gemeinden allein getragen werde. Um aber die Gesamtverkehrskonzeption nicht zu präjudizieren, behielt sie sich eine spätere Verrechnung für den Fall einer andersgearteten gesetzlichen Regelung vor
[7]. Die neuen Rechtsgrundlagen für eine Förderung des öffentlichen Verkehrs durch den Kanton wurden im Juni mit grossen Volksmehrheiten gutgeheissen ; sie ermöglichten die
Gründung regionaler Verkehrsunternehmungen mit kantonaler Beteiligung, die Verpflichtung einzelner Gemeinden zum Anschluss und die Abschöpfung von Mehrwerten, die aus dem Bau von Verkehrsanlagen entstehen
[8].
Darauf wurde vom Kanton und den an der U-Bahn-Strecke gelegenen Gemeinden ein Gründungsvertrag für die
Verkehrsbetriebe der Region Zürich entworfen, der eine Art Regionalparlament sowie ein fakultatives Regionalreferendum für Tariffragen und grössere Ausgaben vorsah. Die Exekutivbehörden des Kantons und der U-Bahn-Gemeinden forderten die benötigten Kredite an, in denen auch kleinere Beiträge für die Zürichberglinie enthalten waren ; für die U-Bahn-Strecke Kloten-Dietikon allein rechnete man nunmehr mit Aufwendungen von 1255 Mio Fr. Der Bundesrat beantragte den eidgenössischen Räten, der Stadt Zürich eine Konzession für die projektierte U-Bahn zu erteilen, was der Ständerat noch im Dezember tat. Das Projekt stiess freilich in Linkskreisen auf Opposition, da befürchtet wurde, es werde die Weiterentwicklung der Innenstadt zum Geschäftszentrum ohne Wohnraum begünstigen
[9].
Überhaupt war die Lösung der Verkehrsprobleme in verschiedenen Grossstädten umstritten. Vor allem Linkskreise verfochten die Auffassung, dass das Gemeinwesen nicht nur die Baukosten, sondern — mindestens zu einem Teil — auch die Betriebskosten der öffentlichen Verkehrsmittel übernehmen solle, um deren Benützung zu fördern und den individuellen Strassenverkehr zu reduzieren. Zur Eindämmung des Individualverkehrs und der von diesem verursachten Immissionen wurden auch Strassenbauten im Stadtgebiet bekämpft. Schliesslich forderte man auf der Linken eine möglichst weitgehende Abschöpfung von Wertvermehrungen, die aus Verkehrsinvestitionen entstehen
[10]. Die Preisgabe des Prinzips der Eigenwirtschaftlichkeit der Verkehrsbetriebe wurde in Zürich nach dem Beispiel Basels von den Stadtbehörden selber beantragt ; die Stimmbürger lehnten aber gleich auch eine Anpassung der Tarife an die Geldentwertung ab, wodurch das Konzept eines Tarifverbundes für sämtliche öffentlichen Verkehrsmittel der Region in Frage gestellt wurde
[11]. Anderseits erlitt das Postulat einer kostenlosen Beförderung in Basel, wo es 1969 auf dem Initiativweg geltend gemacht worden war, eine schwere Niederlage : in der Volksabstimmung ergab sich eine verwerfende Mehrheit von 7 : 1. Eine entsprechende Initiative in der Stadt Zürich wurde wegen Unvereinbarkeit mit dem Gemeindegesetz ungültig erklärt. In Genf brachte die PdA die Vorschläge des 1971 eingereichten Volksbegehrens, das eine Verstaatlichung der Strassenbahngesellschaft vorsah, die Gratisbeförderung dagegen nur als Fernziel anstrebte, mit einem eigenen Gesetzesentwurf im Grossen Rat ein
[12].
Die Abneigung gegen Strassenbauten kam in Zürich in der Verwerfung eines Teilstücks der sog. Westtangente, welche die westliche Nationalstrassenzufahrt mit der südlichen zu verbinden hätte, zum Ausdruck. Auf sozialdemokratischer Seite wurde dieses Ergebnis als Popularitätstest für die kantonale Initiative gegen das Nationalstrassen-Y im Zürcher Stadtzentrum gewertet, und die Zürcher Parteileitung ersuchte den sozialdemokratischen Chef des EDI, vor dem Volksentscheid keine Baugenehmigung für das Y zu erteilen. Während die Stadtverwaltung dazu überging, die Strassenplanung in engerem Kontakt mit der Bevölkerung zu entwickeln, beantragte, der Regierungsrat dem Kantonsrat eine Ungültigerklärung des Volksbegehrens, wobei er betonte, dass die angestrebte Standesinitiative einen Gegenstand betreffe, für den der Adressat, die Bundesversammlung, gar nicht zuständig sei
[13]. Dem Ruf nach einer wohnlichen Stadt suchte die Zürcher Kommunalverwaltung mit der
Planung von verkehrsarmen Wohnschutzgebieten zu entsprechen ; in den Zentren verschiedener Städte wurden verkehrsfreie Zonen eingerichtet
[14].
[6] Vgl. Postulate Urech (fdp, AG) im StR (Amtl. Bull. StR, 1972, S. 557 ff.) und Bussey (sp, VD) im NR (Amtl. Bull. NR, 1972, S. 2112 ff.) sowie Richtlinien der Regierungspolitik (BBI, 1972, I, Nr. 15, S. 1057), ferner SPJ, 1971, S. 101.
[7] Vgl. Postulat Künzi (fdp, ZH) (Amtl. Bull. NR, 1972, S. 422 f.) sowie BBI, 1972, II, Nr. 39, S. 572 f., ferner SPJ, 1971, S. 101. Vgl. auch Kritik von Prof. H. R. Meyer in Bund, 263, 10.11.71.
[8] Vgl. unten, S. 153, und SPJ, 1971, S. 101 f.
[9] Gründungsvertrag : TA, 248, 24.10.72. Kreditanträge : NZZ, 442, 22.9.72 ; 461, 3.10.72. Konzession : BBI, 1972, II, Nr. 39, S. 572 ff. ; Amtl. Bull. StR, 1972, S. 902 f. Opposition : AZ, 58, 9.3.72 ; 63, 15.3.72.
[10] Vgl. Zürcher Initiative für ein Regionalverkehrsgesetz zur Förderung des öffentlichen Verkehrs ohne private Bereicherung (unten, S. 153).
[11] NZZ, 128, 16.3.72 ; 418, 7.9.72 ; 567, 4.12.72 ; NZZ (sda), 568, 5.12.72 ; AZ, 285, 4.12.72. Vgl. auch Oskar Bosshardt, „Die Eigenwirtschaftlichkeit der Verkehrsbetriebe der Stadt Zürich“, in Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Gemeindeverwaltung, 73/1972, S. 129 ff. Für Basel vgl. SPJ, 1971, S. 102.
[12] Basel : vgl. unten, S. 152. Zürich : vgl. unten, S. 148, sowie NZZ, 299, 29.6.72. Genf : VO, 208, 8.9.72 ; vgl. SPJ, 1971, S. 102.
[13] Westtangente (Hardplatzvorlage) : NZZ, 172, 13.4.72 ; AZ, 129, 5.6.72 ; TA, 130. 7.6.72. Ersuchen der Zürcher SP : TA, 152, 3.7.72. Strassenplanung : NZZ, 463, 4.10.72. Y-Initiative : NZZ, 527, 10.11.72 ; vgl. SPJ, 1971, S. 103 f.
[14] Zürich : NZZ, 149, 28.3.72 ; ferner NZZ, 405, 31.8.72. Genf : TG, 271, 18./19.11.72. Bern : Bund, 88, 16.4.72. Lausanne : TLM, 316, 11.11.72. Biel : Bund, 217, 15.9.72 ; 223, 22.9.72.
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