Année politique Suisse 1972 : Infrastruktur und Lebensraum / Verkehr und Kommunikation
 
Eisenbahn
In seinen Richtlinien bestätigte der Bundesrat, dass im Sektor des Eisenbahnwesens dem Bau neuer Alpentransversalen Dringlichkeit zukomme [15] ; sein Entscheid über die zu erstellenden Verbindungen verzögerte sich jedoch. Zwar stimmte die Landesregierung im März einem doppelspurigen Ausbau der Lötschberglinie wie auch dem Bau eines Gotthard-Basistunnels zu, doch zum Bau einer Ostalpenbahn von Chur nach Bellinzona bzw. an den Comersee machte sie gewisse Vorbehalte. Die sechs ostschweizerischen Kantone verlangten dagegen, dass die Ostalpenbahn nebst einem Strassentunnel zwischen Glarus und dem Bündner Oberland gleichzeitig mit den andern Bahnbauten beschlossen und ausgeführt werde. Der westdeutsche Verkehrsminister Leber bekundete seinerseits Interesse an einer östlichen Transversale, gab aber einer Verstärkung von Gotthard und Lötschberg Priorität ; Italien nahm zu den schweizerischen Plänen nicht Stellung [16]. Im Zusammenhang mit den Tunnelprojekten wurde überdies auf die Entwicklung neuer Eisenbahntypen für den Fernschnellverkehr hingewiesen ; das Eidg. Amt für Verkehr empfahl aufgrund einer entsprechenden Studie, den Tunnelquerschnitt grösser zu dimensionieren [17]. Eingehendere Berechnungen ergaben allerdings weit höhere Kosten für einen Gotthard-Basistunnel, als man bis dahin angenommen hatte, so dass die Wirtschaftlichkeit der neuen Verbindung in Frage gestellt war. Diese Beeinträchtigung der Aussichten in einem Zeitpunkt angespannter Staatsfinanzen bewog den Bundesrat, trotz dem Drängen der Gotthardkantone einerseits und der Ostschweiz anderseits die ganze Alpenbahnfrage noch einmal überprüfen zu lassen [18].
Die Rechnung der SBB für 1971 zeitigte wie vorgesehen ein erhebliches Defizit ; mit 54 Mio Fr. übertraf es alle negativen Abschlüsse seit der Sanierung von 1944. Erstmals seit 1958 fiel das Transportvolumen nicht nur im Reise-, sondern auch im Güterverkehr leicht zurück ; dies wurde namentlich mit einem mengenmässigen Rückgang des Exports erklärt. Das Budget für 1973 sah einen Fehlbetrag von 96,9 Mio Fr. vor ; ausser einer zusätzlichen Vermehrung des Personalaufwands infolge der neuen Ämterklassifikation wurde insbesondere eine starke Erhöhung der Bauaufwendungen veranschlagt. In diesen war eine erste Tranche für den 1970 beschlossenen Bau einer Linie enthalten, die eine Umleitung der Städteschnellzüge über einen Flughafenbahnhof in Kloten ermöglichen soll. Da der Bundesrat aufgrund neuer Prognosen der SBB gleichwohl mit einer weiteren Steigerung der Nachfrage nach Gütertransporten rechnete, befürwortete er grössere Investitionen, die aber vom Regiebetrieb auch bei fortgesetzten Tarifanpassungen nicht allein getragen werden könnten ; er kündigte deshalb eine besondere Finanzierungsvorlage an [19]. Auf Vorstösse aus dem Schweizerischen Eisenbahnerverband erklärte sich die Landesregierung ferner bereit, in einer künftigen Revision des SBB-Gesetzes dem Personal analog zur Regelung für die PTT-Betriebe eine Vertretung im Verwaltungsrat zuerkennen zu lassen ; kommende Vakanzen sollten bereits zur Heranziehung zusätzlicher Personalvertreter benützt werden [20].
Nachdem den SBB 1971 eine Neuregelung der Abgeltung ihrer gemeinwirtschaftlichen Leistungen gewährt worden war, hatten auch die Privatbahnen um eine Revision ihres Abgeltungsmodus (bisher : ein Drittel der ordentlichen Abschreibungen) ersucht. Der Bundesrat kam diesem Begehren nach und beantragte den Räten, den Entschädigungsanspruch nach einer Methode zu ermitteln, die sowohl auf den Umfang des verbilligten Berufs- und Schülerverkehrs wie auch auf die Belastungen aus Verkehrsarmut und hohen Infrastrukturinvestitionen Rücksicht nahm ; mangels einer Transportkostenrechnung konnte nicht das für die SBB eingeführte System angewandt werden. Zugleich wurde eine Ausdehnung der Abgeltung auf Strassentransportdienste vorgesehen, die nicht vorwiegend lokalen oder touristischen Charakter haben, und zur Entlastung des Parlaments sollte die Erneuerung unbestrittener Eisenbahnkonzessionen an die Exekutive delegiert werden. Beide Räte stimmten der Revision, von der jährliche Mehraufwendungen des Bundes von 12,5 Mio Fr. erwartet wurden, oppositionslos zu [21]. Eine privatbahnfreundliche Haltung bekundete das Parlament auch im Streit um eine Verlängerung der Konzession für die Linie Oensingen-Balsthal, die der Bundesrat nur für den Gütertransport gewähren wollte, während die solothurnische Regierung mit der Gemeinde Balsthal für die Aufrechterhaltung des Personenverkehrs eintrat [22].
 
[15] BBI, 1972, I, Nr. 15, S. 1056. Vgl. auch Amtl. Bull. NR, 1972, S. 506, sowie SPJ, 1971, S. 106 f.
[16] TA, 71, 24.3.72 ; Ostschw., 87, 14.4.72 ; NZZ (sda), 312, 7.7.72 ; NZZ, 549, 23.11.72. Bei den ostschweizerischen Kantonen handelt es sich um AR, AI, GL, GR, SG und TG.
[17] BN, 205, 30.5.72 ; NZZ, 246, 30.5.72 ; NZZ (sda), 515, 3.11.72 ; LITRA, Jahresbericht 1971/12, S. 72 ff.
[18] NZZ (sda), 416, 6.9.72 ; Ostschw., 244, 17.10.72 ; NZZ, 549, 23.11.72. Vgl. auch Antwort auf Kleine Anfrage Gehen (Amtl. Bull. NR, 1972, S. 1872). Im sog. Gotthardkomitee sind die Kantone AG, BL, BS, LU, NW, SH, SZ, SO, TI, UR, ZG und ZH vertreten.
[19] Rechnung : BBI, 1972, I, Nr. 24, S. 1436 ff. ; Amtl. Bull. StR, 1972, S. 405 f. ; Amtl. Bull. NR, 1972, S. 1182 ff. ; vgl. auch LITRA, Jahresbericht 1971172, S. 10 ff., sowie SPJ, 1970, S. 110. Budget : BBI, 1972, II, Nr. 47, S. 1358 ff. ; Amtl. Bull. StR, 1972, S. 768 ff. ; Amtl. Bull. NR, 1972, S. 2073 ff. Zur Flughafenlinie vgl. NZZ (sda), 571, 6.12.72 ; NZ, 450, 8.12.72 ; ferner SPJ, 1970, S. 111.
[20] Vgl. Postulat Düby (sp, BE) (Amtl. Bull. NR, 1972, S. 1187 ff.) und Eingabe des SEV (gk, 13, 30.3.72) ; ferner SPJ, 1970, S. 111.
[21] Revision des Eisenbahngesetzes : BBI, 1972, I, Nr. 26, S. 1622 ff. ; Amtl. Bull. StR, 1972, S. 669 ff., 902 ; Amtl. Bull. NR, 1972, S. 2101 ff. Vgl. SPJ, 1970, S. 109 f. ; 1971, S. 107, Anm. 85 ; ferner Kritik in Internationale Transport-Zeitschrift, 33/1972, S. 2837 ff.
[22] Vgl. BBl, 1972, II, Nr. 34, S. 157 ff., und NZZ, 455, 29.9.72. Der StR beschloss im Dezember die Verlängerung der Konzession für vollen Betrieb während 20 Jahren (Amtl. Bull. StR, 1972, S. 825 ff.) ; im März 1973 erweiterte der NR die Konzessionsdauer auf 50 Jahre und der StR schloss sich an (NZZ, 113, 9.3.73 ; 125, 16.3.73).