Année politique Suisse 1972 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
 
Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung
In der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge erfolgte 1972 eine wichtige Weichenstellung. Die Ende 1971 vom Bundesrat beantragte Revision des Verfassungsartikels 34 quater, welche das Dreisäulenprinzip verankert, musste vom Parlament und vom Volk sanktioniert werden [6]. Der neue Artikel fixiert im Unterschied zur früheren Fassung gewisse Strukturelemente der AHV (Verhältnis zwischen Höchst- und Mindestrente, Anpassung an die Preisentwicklung, Existenzsicherung), enthält aber nur wenige Grundsätze für die berufliche Vorsorge (Obligatorium für Arbeitnehmer, Arbeitgeberbeiträge von mindestens 50 % ), deren Ausgestaltung der Gesetzgebung überlassen bleibt. Beide Räte lehnten die 1969 eingereichte PdA-Initiative für eine « wirkliche Volkspension » ab und stimmten der bundesrätlichen Verfassungsgrundlage zu, der zugleich die Funktion eines Gegenvorschlages zuerkannt wurde [7]. Es entstand nur eine Differenz, die sich bei der Lösung besonderer Aufgaben der 2. Säule (Teuerungsausgleich) ergab. Der Bundesrat hatte eine Verpflichtung zum Anschluss an eine gesamtschweizerische Einrichtung vorgeschlagen, der Nationalrat indessen begnügte sich mit der Möglichkeit gesamtschweizerischer Massnahmen [8]. Der Ständerat gab nach, so dass am Schluss der Sommersession die Vorlage verabschiedet werden konnte [9]. In den folgenden Monaten gaben die Parteien ihre Parolen aus. Mit Ausnahme der extremen Gruppen [10] beschlossen alle in der Bundesversammlung vertretenen Parteien ohne längere Debatten die Ablehnung des PdA-Volksbegehrens und die Annahme des Gegenvorschlags [11]. Von der Bundespartei abweichende Lösungen empfahlen einige sozialdemokratische und unabhängige Kantonalparteien [12]. überraschend war das doppelte Nein der SVP im Kanton Waadt [13]. Der relativ intensiv geführte Abstimmungskampf, welcher mit der Abstimmung über das Freihandelsabkommen zusammenfiel und den auch die Fremdarbeiterorganisationen mit Stellungnahmen zu beeinflussen versuchten, endete am 3. Dezember mit einem sehr deutlichen Ergebnis zuungunsten der kommunistischen Vorlage (294 477 Ja : 1 481 249 Nein) und zugunsten des Gegenvorschlages (1 394 031 Ja : 417 680 Nein). Kein einziger Stand sprach sich für die PdA-Initiative aus [14].
Inzwischen war auch die 8. AHV-Revision von den Räten nach ausgedehnten Diskussionen abgeschlossen worden. Nachdem gegen Ende des Jahres 1971 der Bundesrat die entsprechende Botschaft verabschiedet hatte, fügte die nationalrätliche Kommission dem Entwurf eine wesentliche Änderung bei, indem die Renten nicht nur der Preisentwicklung, sondern zusätzlich auch der Lohnentwicklung angepasst werden sollten [15]. Eine solche Volldynamisierung der Renten wurde vor allem aus bürgerlichen Kreisen vor und während der Frühlingssession bekämpft. Diese machten geltend, dass die vorgeschlagene Regelung noch zusätzliche Lohnprozente erfordere, was infolge der überalterung eine zu starke Belastung für die Erwerbstätigen bedeute [16]. Es gelang ihnen, den namentlich von Sozialdemokraten vorgetragenen Vorstoss im Nationalrat zurückzuweisen [17]. Der Entwurf fand jedoch im übrigen auch bei ihnen Anerkennung. Die Kleine Kammer schloss sich diesem Urteil an [18]. Es entstanden einige Differenzen, welche sich hauptsächlich auf die Rentenformel (Art der Zusammensetzung der Rente aus einem festen und einem vom Durchschnittseinkommen abhängigen Teil) und auf die Rentenhöhe bezogen [19]. Die Räte konnten sich auf einen festen Rententeil von 320 Fr. einigen, indem der Ständerat nicht wie ursprünglich auf 300 Fr. beharrte. Auch in einigen anderen Fragen gab der Ständerat nach. Dagegen schwenkte der Nationalrat bei der vorgesehenen Erhöhung der Altrenten (1973 bereits laufende Renten) ab 1975 auf die mittlere Linie des « Stöcklis » (20 %) ein, nachdem er 25 %, der Bundesrat 15 % gewünscht hatte. Einen massgeblichen Anteil am Differenzbereinigungsverfahren kam dem Freisinnigen A. Brunner (ZG) zu, der im Zusammenhang mit den Ungleichheiten bei den Rentnerjahrgängen 1973-1975 zu anderslautenden Ergebnissen gelangt war [20]. Nach Ablauf der Referendumsfrist setzte der Bundesrat das revidierte Gesetz zusammen mit den erforderlichen Vollzugserlassen in Kraft [21]. Damit war die Existenzsicherung durch die staatliche AHV verwirklicht [22]. Die erste Erhöhung auf den 1. Januar 1973 beträgt für die einfachen Altersrenten im allgemeinen 80 %. Das hinderte freilich die SP und den SGB nicht daran, noch vor Jahresende eine neuerliche Heraufsetzung der Renten wie auch der Ergänzungsleistungen zu fordern [23].
 
[6] Vgl. SPJ, 1971, S. 134 f., und BBI, 1972, I, Nr. 15, S. 1050 f.
[7] Amtl. Bull. NR, 1972, S. 260 ff., 324 ff.; Amtl. Bull. StR, 1972, S. 276 ff., 289 ff.: NZZ, 125, 14.3.72 ; 128, 16.3.72 ; Bund, 62, 14.3.72 ; Vat., 64, 16.3.72.
[8] Amtl. Bull. StR, 1972, S. 290 ff., 463 ; Amtl. Bull. NR, 1972, S. 324 f., 325 ff., 918 f.
[9] Amtl. Bull. NR, 1972, S. 1338 ; Amtl. Bull. StR, 1972, S. 549.
[10] PdA (Volkspensionsinitiative : Ja : Gegenvorschlag : Nein) : VO, 247, 24.10.72. Republikanische Bewegung (Nein ; Nein) : Der Republikaner, 16, 17.11.72. NA : Keine Parole.
[11] FDP : NZZ, 530, 13.11.72 ; Bund, 267, 13.11.72. SP : Tw, 232. 3.10.72. CVP : Vat., 258, 6.11.72 ; Bund, 261, 16.11.72 ; NZZ, 518, 6.11.72. SVP : NBZ, 254, 30.10.72 ; NZZ, 506, 30.10.72. LdU : Der Ring, 17, 13.11.72 ; vgl. auch unten, S. 165. Liberal-demokratische Union : Bulletin d'information, 1972. Nr. 49. EVP : NZZ (sda), 506, 30.10.72. SGV : NZZ (sda), 428, 13.9.72 ; Schweizerische Gewerbe-Zeitung, 38, 22.9.72 ; vgl. auch Otto Fischer, « Das Gewerbe vor dem Obligatorium der 2. Säule der AHV », in Gewerbliche Rundschau, 17/1972, S. 67 ff.
[12] SP der Kte. BL, SH, VS und GE (PdA-Initiative : Ja ; Gegenvorschlag : Nein) ; LdU der Kte. LU und AG (Nein ; Nein), des Kts. BE (Stimmfreigabe).
[13] VO, 263, 11.11.72. Dieselbe Parole gaben auch die Unabhängigen Christlichsozialen des Kts. FR aus.
[14] BBI, 1973, I, Nr. 4, S. 81 ff. ; NZZ, 566 u. 567. 4.12.72 ; Bund, 285, 4.12.72 ; AZ, 285, 4.12.72 ; GdL, 284, 4.12.72 ; VO, 282, 4.12.72. Vgl. auch oben, S. 38 f. und 116.
[15] NZZ. 59, 4.2.72 ; 65, 8.2.72 ; AZ, 30, 5.2.72 ; vgl. SPJ, 1971, S. 135.
[16] überparteiliches Komitee für zeitgemässe Altersvorsorge : NZ, 82, 18.2.72. Zentralverband schweiz. Arbeitgeber-Organisationen : NZZ, 94, 25.2.72. SVP : NZZ, 97, 27.2.72. Fraktion der FDP : NZZ, 103, 1.3.72.
[17] Amtl. Bull. NR, 1972, S. 383 ff. ; 428 ff. ; NZZ, 129, 16.3.72 ; Tw, 64, 16.3.72.
[18] Amtl. Bull. StR, 1972, S. 276 ff. ; NZZ, 241, 7.6.72.
[19] Amtl. Bull. NR, 1972, S. 919 ff. ; Amtl. Bull. StR, 1972, S. 463 ff. ; NZZ, 274, 15.6.72 ; Ldb, 147, 28.6.72 ; AZ. 155, 5.7.72.
[20] Amtl. Bull. NR, 1972, S. 921 ff. ; NZZ, 30, 19.1.72 ; NZ, 50, 31.1.72.
[21] AS, 1972, Nr. 44, S. 2483 ff., 2507 ff. ; NZZ, 476, 12.10.72 ; TA, 238, 12.10.72.
[22] Vgl. zum Inhalt der 8. AHV-Revision : SPJ, 1971, S. 135 ; Bund, 254, 29.10.72.
[23] NZZ, 599, 22.12.72 ; Bund, 302, 24.12.72.