Année politique Suisse 1972 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen
Jugend
Nicht nur der Bildungspolitik, sondern auch einer
Jugendpolitik, die der jungen Generation eine Mitwirkung an der Erneuerung der Gesellschaft zu ermöglichen hätte, widmete der Bundesrat in seinen Richtlinien Aufmerksamkeit
[53]. Auf Antrag des Präsidenten der vom EDI eingesetzten Studiengruppe für Jugendfragen, Nationalrat Gut (fdp, ZH), wurde in die Bildungsartikel die Kompetenz des Bundes aufgenommen, Grundsätze für die ausserschulische Jugendbildung aufzustellen, um die verfassungsrechtliche Grundlage für die Konzipierung einer nationalen Jugendpolitik zu schaffen. Die Studiengruppe führte über zwei Modellvorschläge für eine Jugendpolitik Hearings durch
[54].
Vor besonderen Schwierigkeiten sieht sich eine Jugendpolitik bei der
Integration von Randgruppen, die entweder das bestehende Gesellschaftssystem umzustürzen trachten oder die sich in eine Gegenkultur geflüchtet haben
[55]. Dass hier flexible Massnahmen eher Erfolg versprechen, liess sich bei der Bekämpfung des zunehmenden Drogenmissbrauchs feststellen
[56]. In zahlreichen grösseren Ortschaften wurden auf öffentlicher oder privater Basis organisierte Drogenberatungsstellen eingerichtet
[57] ; vermehrt erfuhren auch Wohngemeinschaften von Jugendlichen Förderung. In mehreren Städten kam es zu Schwierigkeiten, wenn solche Gemeinschaften in Abbruchobjekten untergebracht waren und die Jugendlichen auf Kündigungen mit Hausbesetzungen antworteten. Die Milde eines Polizeieinsatzes gegen jugendliche Ausschreitungen in Basel veranlasste die Nationale Aktion zu Drohungen mit Selbsthilfe
[58]. Ähnlich lag die Problematik bei den Jugendzentren. Randgruppen versuchten z.B. in Zürich wiederholt, das Jugendzentrum Drahtschmidli in eigene Verwaltung zu nehmen, wurden aber von der Polizei daran gehindert
[59]. Verschiedentlich richteten Jugendliche in besetzten Häusern unter Duldung durch die Behörden autonome Zentren ein. « Le Prieuré » in Genf bildete mehrere Monate lang eine solche subkulturelle Institution, deren plötzliche polizeilich erzwungene Zerstörung kurz vor Weihnachten von weiten Kreisen als zu harte Massnahme empfunden wurde
[60].
Der weiter zunehmenden
Jugendkriminalität versuchte man vermehrt durch eine modernere Praxis der Nacherziehung und Resozialisation zu begegnen, so z.B. im neuen halboffenen Jugendgefängnis in Lausanne und mit einer neuen Verordnung für die Arbeitserziehungsanstalt Uitikon (ZH)
[61]. Eine in Zürich eingereichte Initiative zur Bekämpfung der Jugendkriminalität setzte sich für eine Verbesserung der Rechtsposition von jugendlichen Delinquenten ein, und ein neues bernisches Jugendrechtspflegegesetz wurde im Sinn vermehrter Betreuung straffälliger Jugendlicher konzipiert
[62].
[53] BBI, 1972, I, Nr. 15, S. 1044. Neue Literatur zum Jugendproblem : Das Bild der Schweizer Jugend, hrsg. v. La Suisse und „Schweizer Allgemeine“, Lausanne und Zürich 1972; H. P. Müller, Der Bunker von Zürich, Jugend zwischen Rückzug und Revolte, Olten 1972; Interdisziplinäre Jugenduntersuchung im Kanton Zürich, Zwischenbericht Februar 1972 (vervielf.) ; Schweizer Monatshefte, 52/1972-73, S. 21 ff. ; Les cahiers protestants, 1972, Nr. 6, S. 7 ff.
[54] TA, 78, 4.4.72 ; NZZ, 553, 26.11.72. Vgl. SPJ, 1971, S. 140.
[55] Laut der oben zitierten Untersuchung Das Bild der Schweizer Jugend, S. 76, macht die erste Gruppe 5,9 %, die zweite 10,1 % der 15- bis 25jährigen aus.
[56] Ergebnisse einer Untersuchung über den Drogenkonsum im Kanton Zürich ergaben, dass 25 % der männlichen und 16 % der weiblichen 19jährigen Drogenerfahrung haben : TA, 293, 15.12.72.
[57] Im Herbst wurde ein Verein der Mitarbeiter schweizerischer Beratungs- und Behandlungsstellen für Drogenabhängige und -gefährdete gegründet : Tw, 19, 24.1.73.
[58] NZ, 339, 1.9.72 ; 355, 15.9.72 ; 363. 23.9.72 ; 369, 28.9.72 ; BN, 302, 20.9.72 ; 305, 23.9.72 ; 308, 27.9.72 ; 309, 28.9.72.
[59] AZ, 233, 4.10.72 ; 236, 7.10.72 ; 241, 13.10.72 ; TA, 232, 5.10.72 ; 295, 28.12.72 ; NZN, 272, 20.11.72 ; 273, 21.11.72 ; NZZ, 566, 4.12.72.
[60] TdG, 299, 21.12.72 ; 300, 22.12.72; JdG, 299, 21.12.72 ; 302, 27.12.72 ; 304, 29.12.72; VO, 298, 22.12.72.
[61] Lausanne : GdL, 22, 27.1.72 ; Uitikon : TA, 120, 26.5.72.
[62] Zürich : TA, 221, 22.9.72 ; Bern : Bund, 44, 22.2.72 ; 45, 23.2.72 ; 116, 19.5.72. Vgl. unten, S. 144.
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