Année politique Suisse 1972 : Bildung, Kultur und Medien / Bildung und Forschung
Grund- und Mittelschulen
Die Bemühungen um eine
Koordination des Primar- und Mittelschulwesens erlitten empfindliche Rückschläge. Zwar fehlte es nicht an Erfolgen bei der Harmonisierung der Lehrziele ; so gelang z.B. die Einführung eines gemeinsamen Studienplanes für die ersten vier Primarschuljahre der Ecole romande
[11]. Auch in der deutschen Schweiz waren im Bereich der inneren Koordination Fortschritte zu verzeichnen ; insbesondere wurden die Arbeiten für einheitliche Rahmenlehrpläne, gemeinsame Lehrmittel und einen gleichzeitigen Fächerbeginn vorangetrieben
[12]. Ferner erliess die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) aufgrund eines Expertenberichts Empfehlungen, die sich gegen jede Diskriminierung der Mädchen im Schulunterricht wenden
[13]. Doch die Bestrebungen für eine äussere Schulkoordination traten in eine Krise, als am 6. Juni die beiden einwohnerstärksten Kantone in Volksabstimmungen gegen die vom Konkordat angestrebte Lösung entschieden : die Berner verwarfen die von den Behörden ausgearbeitete Anpassungsvorlage, und die Zürcher stimmten der Gesetzesinitiative zu, die den 1971 nur knapp gutgeheissenen Herbstschulbeginn wieder rückgängig machte
[14]. Darauf sistierten die Kantone der Nordwest- und der Ostschweiz, die mit der Umstellung auf die Konkordatsbestimmungen bereits begonnen hatten, ihre Massnahmen, und Kantone, in denen ein Entscheid unmittelbar bevorstand, vertagten ihn
[15]. Graubünden und Schaffhausen traten dem Konkordat zwar noch bei, jedoch mit dem Vorbehalt, dass dies keine Zustimmung zum Herbstschulbeginn bedeute
[16]. Damit hielt östlich der Saane einzig die Innerschweiz am Herbstschulbeginn fest
[17], aber auch hier zeigten sich Abbröckelungserscheinungen : im Kanton Schwyz wurde eine Initiative für den Frühjahrschulbeginn eingereicht
[18]. Trotz dieser ernüchternden Entwicklung entschloss sich die EDK, am Konkordat festzuhalten, und ihr Sekretär wurde mit Vorarbeiten für ein schweizerisches Schulgesamtkonzept betraut
[19]. In der Öffentlichkeit wurde indessen vermehrt bezweifelt, dass das Konkordat die Schulkoordination herbeizuführen vermöge
[20].
Die seit einigen Jahren in Gang gekommene Diskussion über die
Gesamtschule wurde 1972 lebhafter. Gegner der Gesamtschule wandten sich gegen deren Voraussetzung, dass Intelligenz nicht nur vererbt, sondern auch durch die Umwelt bestimmt werde
[21]. Die theoretischen Auseinandersetzungen bewirkten, dass da und dort die Behörden gegenüber Schulversuchen zurückhaltender wurden. So stimmte der Zürcher Regierungsrat der Einrichtung einer Planungsorganisation für Schulversuche zu, zog aber solche Versuche frühestens für 1975 in Betracht
[22]. Dagegen beschloss der Walliser Grosse Rat die Einführung eines Cycle d'orientation für das 7. bis 9. Schuljahr, und die Tessiner Regierung legte einen Gesetzesentwurf über eine Gesamtmittelschule vor
[23].
Neue Möglichkeiten für die Gymnasien eröffnete der Bundesrat mit seiner Zustimmung zu einer von der Eidg. Maturitätskommission beantragten und in einem Vernehmlassungsverfahren allgemein gutgeheissenen
Teilrevision der Maturitäts-Anerkennungsverordnung (MAV) von 1968. Diese bringt die Gleichstellung eines neusprachlichen Typus D (ohne Latein) und eines wirtschaftswissenschaftlichen Typus E mit den traditionellen Typen ; ausserdem wird Musik als mögliche Alternative zu Zeichnen Maturitätsfach
[24]. Dass damit noch nicht die Mittelschule von morgen geschaffen sei, betonte Bundesrat Tschudi in seiner Antwort auf ein Postulat Uchtenhagen (sp, ZH), das eine Totalrevision der MAV verlangte. Gemeinsam mit den Kantonen prüfe das EDI die Möglichkeit, einen Experimentierartikel in die MAV aufzunehmen
[25]. Die Mittelschulen waren nicht frei von Unruhen. In Lausanne wurde die befristete Relegation eines Schülers, der an einer Promotionsfeier in der Kathedrale eine provokative Rede gehalten hatte, zum Ausgangspunkt zahlreicher Kundgebungen und Flugblattaktionen. Gegenmassnahmen der Waadtländer Regierung, vor allem ein Erlass, der das Verteilen von Flugblättern in den Schulen und in der Öffentlichkeit verbot, führten zu einer Solidarisierungsaktion weiter Kreise, die schliesslich die Regierung zur Zurücknahme des umstrittenen Erlasses bewog
[26].
Im Vorfeld der Volksabstimmung über die konfessionellen Ausnahmeartikel überwies das Parlament eine Motion Zwygart (evp, BE), die den Bundesrat aufforderte, gegen Kantone vorzugehen, deren Schulen den von Art. 27 BV geforderten überkonfessionellen Charakter vermissen liessen
[27]. Der Kanton Freiburg, der in erster Linie visiert war, versuchte den Kritikern damit entgegenzukommen, dass er die volle finanzielle Trägerschaft auch für die Schulen der reformierten Minderheit übernahm
[28].
[11] TLM, 351, 16.12.72 ; TdG, 295, 16./17.12.72 ; NZZ, 596, 21.12.72.
[12] NZ, 5, 5.1.72 ; NZZ (sda), 212, 8.5.72 ; 25, 17.1.73. Die EDK setzte eine pädagogische Kommission ein, die sich mit Fragen der inneren Koordination befasst : Mitteilungen der Schweizerischen Dokumentationsstelle für Schul- und Bildungsfragen, 11/1972, Nr. 44, S. 23 f. Es wurde auch eine Interkantonale Zentralstelle für die Lehrmittelkoordination gegründet : TA, 295, 18.12.72.
[13] TA, 186, 12.8.72 ; TdG, 188, 12./13.8.72 ; NZZ, 517, 5.11.72.
[14] Vgl. unten, S. 159 f. ; SPJ, 1971, S. 141.
[15] Sistierung : Appenzell A. Rh.: NZZ (sda), 374, 13.8.72 ; Baselland : NZ, 347, 8.9.72; St. Gallen : TA, 162, 14.7.72 ; Solothurn : NZZ, 433, 16.9.72. Vertagung : Aargau : Vat., 298, 22.12.72; Baselstadt : NZ, 321, 16.8.72 ; Glarus : NZZ (sda), 390, 22.8.72 ; Thurgau : BN, 238, 7.7.72.
[16] Graubünden : NZZ (sda), 466, 6.10.72 ; Schaffhausen : NZ, 447, 5.12.72.
[17] Vat., 246, 21.10.72. Zur Sonderregelung für den Berner Jura vgl. oben, S. 28.
[19] TA, 222, 23.9.72 ; NZZ, 517, 5.11.72 ; Ww, 51, 20.12.72.
[20] NZ, 244, 10.6.72 ; 351, 11.9.72 ; TA, 133, 10.6.72 ; 218, 19.9.72 ; AZ, 222, 21.9.72 ; NBZ, 221, 22.9.72 ; Bund, 230, 1.10.72.
[21] NZZ, 233, 21.5.72 ; 291, 25.6.72 ; 326, 15.7.72 ; 344, 26.7.72 ; 418, 7.9.72 ; 470, 9.10.72 ; Bund, 269, 15.11.72 ; 270, 16.11.72 ; 299, 20.12.72 ; TA-Magazin, 35, 2.9.72. Vgl. SPJ, 1970, S. 149 f. ; 1971, S. 141 f. Vgl. auch Gewerkschaftliche Rundschau, 64/1972, S. 340 ff.
[22] AZ, 277, 24.11.72 ; Ldb, 274, 24.11.72 ; NZZ, 551, 24.11.72.
[23] Wallis : Vat., 69, 22.3.72 ; TLM, 138, 17.5.72. Tessin : NZZ, 394, 24.8.72.
[24] NZ, 462, 18.12.72 ; TA, 296, 19.12.72 ; NZZ, 592, 19.12.72 ; 601, 24.12.72 ; Bund, 302, 24.12.72. Vgl. SPJ, 1968, S. 127.
[25] Amtl. Bull. NR, 1972, S. 2425 ff. Vgl. SPJ, 1971, S. 141 f.
[26] TLM, 110, 19.4.72 ; 111, 20.4.72 ; 121, 30.4.72 ; 124, 3.5.72 ; 131, 10.5.72 ; 132, 11.5.72 ; 134, 13.5.72 ; 135, 14.5.72 ; 139, 18.5.72 ; 144, 20.5.72 ; 201, 19.6.72 ; GdL, 93, 21.4.72 ; 94, 22./23.4.72 ; 104, 4.5.72 ; VO, 92, 21.4.72.
[27] Amtl. Bull. NR, 1972, S. 1562 ff. ; Amtl. Bull. StR, 1972, S. 773.
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