Année politique Suisse 1972 : Bildung, Kultur und Medien / Bildung und Forschung
 
Hochschulen
Im Hochschulwesen stand die Vorbereitung einer Totalrevision des Hochschulförderungsgesetzes, dessen erste Beitragsperiode 1974 abläuft, im Vordergrund. Die hochschulpolitischen Gremien veröffentlichten Vorschläge, welche die Hochschulen aus ihrer Ausbaukrise herausführen sollten [36]. In die Überlegungen wurde die Revision der Bildungsartikel einbezogen, die dem Bund den Erlass von Grundsatznormen über Ausbau und Gestaltung des höheren Bildungswesens übertragen und ihn ermächtigen sollte, höhere Unterrichtsanstalten ganz oder teilweise zu übernehmen. Die Vorschläge stimmten darin überein, dass die Bereitstellung der notwendigen Studienplätze (65 000-85 000 im Jahre 1985) und die Sicherstellung der Qualität des Unterrichts künftig finanzielle Mittel erfordern würden, welche die Finanzkraft der Kantone übersteigen [37]. Der Bund sollte jedoch ein vermehrtes finanzielles Engagement — der Wissenschaftsrat dachte an die Übernahme von rund 50 % der kantonalen Hochschulausgaben — nicht ohne Erweiterung seiner Gestaltungskompetenzen eingehen. In seinem Ausbaubericht legte der Wissenschaftsrat zwei Modelle vor : entweder eine Verbesserung des gegenwärtigen Subventionssystems (Erhöhung der Investitions- und Grundbeiträge und grosszügige Zuschläge für Hochschulen, die im gesamtschweizerischen Interesse liegende Anstrengungen unternehmen) oder eine Mitträgerschaft des Bundes für einzelne Fakultäten oder Fakultätsteile [38].
Der zweite Vorschlag, der vom Präsidenten des Wissenschaftsrats schon angekündigt worden war, stiess in der Öffentlichkeit auf Kritik [39]. Abgelehnt wurde er auch von der Hochschulkonferenz, die in ihrem Grundsatzpapier forderte, dass bildungspolitischen Zielen vor finanzpolitischen und organisatorischen Problemen der Primat eingeräumt werde ; als solche Ziele hob sie die Pflege der Wissenschaft, die Entfaltung der Persönlichkeit, die Fähigkeit zu schöpferischem und kritischem Denken sowie zur Ausübung akademischer Berufe und die Vermittlung von gesellschaftlichem Verantwortungsbewusstsein hervor. Sie forderte insbesondere einen Einbezug der Nichthochschulkantone in eine künftige nationale Hochschulpolitik, eine grössere Durchlässigkeit zwischen sämtlichen Institutionen der höheren Ausbildung und eine klare Verteilung der Kompetenzen auf entscheidungsvorbereitende, entscheidende und ausführende Organe. Den Kantonen und den Hochschulen sei eine echte Mitbestimmung bei der Ausarbeitung gesamtschweizerischer Konzeptionen zu gewähren, doch müsse der Bund die Möglichkeit haben, solche auch durchzusetzen [40]. Die Hochschulrektorenkonferenz verlangte die Einsetzung eines Schweizerischen Hochschulrates aus vollamtlichen Sachverständigen, der Entwicklungs- und Finanzpläne für alle Hochschulen zu erarbeiten hätte. Die Uneinigkeit der Fachleute über eine künftige Hochschulpolitik veranlasste Bundesrat Tschudi, eine Arbeitsgruppe einzusetzen. Diese empfahl vorerst eine Partialrevision des Hochschulförderungsgesetzes als befristete Übergangslösung (im Sinne des ersten Modells des Wissenschaftsrats) ; die grundsätzlichen Fragen wie die Reform der Hochschulstrukturen und die Studienreform [41] bedürften einer eingehenderen Prüfung und setzten die Annahme der Bildungsartikel durch Volk und Stände voraus [42].
Die Ausbaukrise der kantonalen Hochschulen führte verschiedentlich zu Beunruhigung der Hochschulangehörigen. So streikten die Studenten der Zahnmedizin in Genf wegen prekärer Raumverhältnisse, worauf die Regierung eine kurzfristige Verbesserung der Lage an die Hand nahm [43]. In Bern verursachte ein unverhältnismässig grosser Andrang zum Psychologiestudium unhaltbare Lehrverhältnisse. Die Regierung erklärte sich zu einer Vermehrung der Dozenten und der Unterrichtsräume bereit, setzte aber gleichzeitig einen numerus clausus für Neuimmatrikulierte fest [44]. In Basel verlängerte die Regierung den Plafonierungsbeschluss für Hochschulausgaben [45], und auch Zürich sah sich veranlasst, vorübergehend einen Berufungs- und Beförderungsstop zu erlassen [46]. Allgemein konnte jedoch in der Studentenpolitik eine gewisse Entspannung festgestellt werden, eine Abkehr von klassenkämpferischer Politik zugunsten einer eher gewerkschaftlichen Vertretung studentischer Interessen. So wurden an der Universität Zürich die marxistischen Gremien abgewählt und durch gemässigte ersetzt. Das hinderte freilich nicht, dass die Studentenvertreter von Fall zu Fall scharfe Kritik an Entscheiden der Behörden äusserten. So erregte in Bern die Neubesetzung des Lehrstuhls für Soziologie und der Direktion der Universitätsbibliothek bei den Studenten Widerspruch [47]. In Zürich legte die Regierung ein neues Universitätsgesetz zur Vernehmlassung vor, das von Studenten und Assistenten wegen einer beträchtlichen Verstärkung der Kompetenzen des Rektorats und wegen eines Mitbestimmungssystems, welches die den Studenten und Assistenten auf der untersten Ebene (Seminare, Institute) bereits zugestandenen Rechte wieder einschränkte, angegriffen wurde [48]. Gegenüber dem Zürcher Entwurf wiesen die Thesen der ausserparlamentarischen Expertenkommission, die von der Berner Erziehungsdirektion zur Vorbereitung eines neuen Hochschulgesetzes eingesetzt worden war [49], ein erheblich weiter ausgedehntes Mitbestimmungsrecht der Assistenten und Studenten auf [50]. Eine Auseinandersetzung auf eidgenössischer Ebene meldete der Verband der Schweizerischen Studentenschaften durch die Einreichung seiner Initiative « Lausanner Modell » für eine elternunabhängige Studienfinanzierung an [51].
In seinem Ausbaubericht äusserte sich der Wissenschaftsrat auch über die Notwendigkeit von Hochschulneugründungen [52]. Trotz seiner Feststellung, dass ein Ausbau der bestehenden Hochschulen die zunehmenden Studentenzahlen bewältigen und Neugründungen wenig zur Deckung eines vor 1985 eintretenden Platzdefizits beitragen könnten, beschloss er, die Planung für eine Hochschule Luzern zu unterstützen, sofern eine enge Zusammenarbeit mit den gesamtschweizerischen hochschulpolitischen Instanzen und mit den Kantonen Aargau und Solothurn zugesichert werde [53]. Ein aargauisches Anerkennungsgesuch für eine Abteilung für Bildungswissenschaften wurde von der Hochschulkonferenz in empfehlendem Sinn an den Wissenschaftsrat weitergeleitet [54]. Im Tessin schlug die kantonale Kommission für Hochschulfragen die Errichtung eines Zentrums für wirtschaftliche und ökologische Nachdiplomstudien vor [55].
Für den weiteren Ausbau der Eidg. Technischen Hochschulen beantragte der Bundesrat einen Kredit von 583 Mio Franken, der zur Hauptsache für die erste Etappe der Verlegung der ETH Lausanne nach Ecublens bestimmt war [56]. Einen Teilkredit von 35 Mio für das Institut für Nuklearforschung (SIN) in Villigen (AG) wies der Ständerat zur Überprüfung zurück ; auf Grund der Zusicherung, dass dieser Betrag teuerungsbedingt sei, sprachen jedoch die Räte in der Frühjahrssession 1973 den Gesamtkredit [57].
Eine Kontroverse um die Lehrfreiheit und das Verhältnis zwischen Staat, Universität und Kirche erregte in der ganzen Schweiz Aufmerksamkeit. Der Dominikaner S. Pfürtner, Professor an der Theologischen Fakultät Freiburg, vertrat in einem Vortrag eine Sexualmoral der vollen Mündigkeit des Individuums, die mit der offiziellen Lehre der katholischen Kirche nicht übereinstimmte [58]. Auf der einen Seite verlangte die Glaubenskongregation in Rom einen öffentlichen Widerruf der umstrittenen Thesen, und als dieser nicht erfolgte, entzog der Ordensgeneral der Dominikaner Prof. Pfürtner die kirchliche Lehrerlaubnis [59]. Anderseits versuchten die Schweizer Bischöfe in Gesprächen mit Prof. Pfürtner eine Angleichung der Lehrmeinungen herbeizuführen und gleichzeitig zu einer Revision der Beziehungen zwischen staatlichen und kirchlichen Instanzen beizutragen [60]. Damit nahmen sie Rücksicht auf die Kritik weiter Kreise, die eine Revision der Konvention von 1889 verlangten, in welcher der Freiburger Staatsrat dem Dominikanerorden die Sorge um die Theologische Fakultät anvertraut hatte [61]. Ein Rechtsgutachten zog die Verfassungsmässigkeit der Konvention in Zweifel [62]. Der Bundesrat, der zur Stellungnahme aufgefordert wurde, hielt sich zurück, da der Freiburger Staatsrat seine Absicht bekannt gab, die Konvention zu kündigen, um die Organisation der Theologischen Fakultät den gewandelten Bedürfnissen anzupassen [63]. Gleichzeitig wurde Prof. Pfürtner ein Urlaub gewährt, so dass die Regierung ihren Entscheid über eine eventuelle Entlassung hinausschieben konnte [64]. Der Fall Pfürtner erhielt namentlich insofern landespolitische Bedeutung, als er in breiten Volksschichten Bedenken und Emotionen gegen die vorgesehene Aufhebung der konfessionellen Ausnahmeartikel verstärkte [65].
 
[36] Zum Folgenden vgl. Zweiter Bericht über den Ausbau der schweizerischen Hochschulen, hrsg. vom Schweiz. Wissenschaftsrat, Bern 1972 ; Schweiz. Hochschulkonferenz, „Mutmassungen über die zukünftige schweizerische Hochschulpolitik“, in Wissenschaftspolitik, 1/1972, Nr. 3, S. 25 ff.; Schweiz. Hochschulrektoren-Konferenz, « Vorschlag für die Entwicklung und Finanzierung der schweizerischen Hochschulen», ebenda, 1/1972, Nr. 4, S. 61 ff. Wissenschaftspolitik wurde zum gemeinsamen Informationsorgan der schweizerischen wissenschaftspolitischen Instanzen umgestaltet.
[37] Vgl. SPJ, 1971, S. 144. Der Wissenschaftsrat schätzte die Zuwachsrate für Hochschulausgaben jährlich auf 15-20 % bis 1985, während die Einnahmen der Kantone in demselben Zeitraum nur um ca. 10 % ansteigen dürften.
[38] Vgl. auch als Postulate überwiesene Motionen Herzog (svp, TG) und Hofer (svp, BE) : Amtl. Bull. StR, 1972, S. 616 ff. ; Amtl. Bull. NR, 1972, S. 2414 ff.
[39] BN, 11, 8./9.1.72 ; TLM, 52, 21.2.72 ; GdL, 116, 19.5.72 ; 269, 16.11.72 ; NZ, 228, 27.5.72 ; NZZ, 243, 28.5.72 ; 264, 9.6.72 ; 310, 6.7.72 ; Lib., 292, 15.9.72 ; ferner SPJ, 1971, S. 144.
[40] Ahnliche Forderungen erhob die Gesellschaft für Hochschule und Forschung ; weiter verlangte sie die Schaffung eines Bildungs- und Forschungsrats mit parlamentarischem Charakter : NZZ, 475, 11.10.72.
[41] Erster Jahresbericht der Kommission für Studienreform in Wissenschaftspolitik, 1/1972, Nr. 4, S. 41 ff.
[42] NZZ, 481, 15.10.72 ; 517, 5.11.72 ; NZZ (sda), 493, 22.10.72 ; NZ, 403, 28.10.72 ; Bund, 283, 1.12.72 ; 284, 3.12.72.
[43] JdG, 136, 13.6.72 ; 137, 14.6.72 ; 241, 14./15.10.72.
[44] Tw, 38, 15.2.72 ; 40, 17.2.72 ; 157, 7.7.72 ; Bund, 48, 27.2.72 ; 52, 2.3.72 ; 250, 24.10.72.
[45] BN, 227, 24.6.72 ; 383, 23.12.72 ; vgl. SPJ, 1970, S. 154.
[46] TA. 134, 12.6.72 ; NZZ, 278, 17.6.72 ; AZ, 268, 14.11.72:
[47] Berner Student, 3, 24.1.73 ; Bund, 57, 8.3.72 ; 58, 9.3.72 ; 63, 15.3.72.
[48] AZ, 145, 23.6.72 ; NZZ, 312, 7.7.72 ; TA, 258, 4.11.72 ; Uni 72, hrsg. vom Wissenschaftlichen Informationsdienst der Universität Zürich, 3/1972, Nr. 5.
[49] Vgl. SPJ, 1968, S. 124.
[50] Bund, 158, 9.7.72.
[51] Die Initiative hatte 57 796 gültige Unterschriften : BBI, 1972, I, Nr. 23, S. 1318 ff. ; vgl. SPJ, 1970, S. 155 f. ; 1971, S. 147 ; vgl. auch Forderungen des Bildungsrates Schweizer Katholiken, dass Ausbildungsbeiträge nicht mehr von den finanziellen Verhältnissen der Eltern abhängen sollten : Bund, 56, 7.3.72.
[52] Zweiter Bericht über den Ausbau der schweizerischen Hochschulen, hrsg. vom Schweizerischen Wissenschaftsrat, Bern 1972, S. 134 ff.
[53] Wissenschaftspolitik, 1/1972, Nr. 4, S. 19 ff. ; Bund, 106, 7.5.72 ; NZZ, 436, 19.9.72. Vgl. auch SPJ, 1969, S. 135.
[54] TA, 224, 26.9.72 ; BN, 318, 9.10.72. Vgl. auch SPJ, 1970, S. 156 ; 1971, S. 147.
[55] NZZ, 98, 28.2.72 ; CdT, 54, 6.3.72.
[56] BBI, 1972, 1, Nr. 24, S. 1325 ff.
[57] Amtl. Bull. StR, 1972, S. 732 ff. ; NZZ, 563, 1.12.72 ; 135, 22.3.73 ; Bund, 62, 15.3.73.
[58] Vat., 28, 3.2.72 ; NZZ, 66, 9.2.72 ; Tw, 39, 16.2.72. Vgl. auch Lib., 107, 5./6.2.72.
[59] Lib., 52, 1.12.72 ; Vat., 281, 2.12.72.
[60] GdL, 64, 16.3.72 ; NZZ, 130, 17.3.72 ; 571, 6.12.72 ; Lib., 201, 30.5.72 ; 232, 6.7.72 ; Vat., 284, 6.12.72 ; NZ, 448, 6.12.72.
[61] Bund, 64, 16.3.72 ; NZZ, 145, 26.3.72.
[62] NZZ, 565, 3.12.72.
[63] Antwort des BR auf Kleine Anfrage Renschler (sp, ZH) : Amtl. Bull. NR; 1972, S. 2474.
[64] TLM, 358, 23.12.72 ; Lib., 74, 30.12.72. Vgl. auch La Gruyère, 143, 9.12.72 ; Vat., 287, 9.12.72 ; 293, 16.12.72.
[65] TA, 27, 2.2.72 ; Vat., 28, 3.2.72 ; Ostschw., 29, 4.2.72 ; Tw, 29, 4.2.72 ; NBZ, 33, 9.2.72 ; NZZ, 78, 16.2.72.