Année politique Suisse 1973 : Infrastruktur und Lebensraum / Energie
 
Energiepolitik
Die Auffassung, dass die Zunahme der Energieproduktion ein grundlegendes Element des Fortschrittes sei, war schon im Vorjahr in Frage gestellt worden. 1973 verstärkte sich die Sensibilisierung für die Probleme des Wachstums und der Umwelt, wozu besonders eine akute Krise in der Erdölversorgung beitrug. Die 1972 eingeleitete Diskussion um eine Gesamtenergiekonzeption, welche über die bisher praktizierten blossen Bedarfsrechungen hinausgehen soll, kam aber noch nicht zu wesentlich neuen Resultaten [1]. In der Debatte über den Geschäftsbericht stellte Ständerat Jauslin (fdp, BL) fest, es lägen wohl zuverlässige Prognosen vor und man sei sich auch über das Fernziel — saubere Energie — einig, über den Weg aber und insbesondere über die Zwischenziele befinde man sich im Ungewissen. Eine von beiden Räten unterstützte Motion Künzi (fdp, ZH) verlangte, dass eine Kommission kurzfristig Prinzipien und Grundlagen einer Gesamtenergiekonzeption erarbeite, für welche wesentliche Elemente im Eidg. Amt für Energiewirtschaft bereits vorhanden seien. Anderseits überwies der Nationalrat im Verlaufe der Behandlung des neuen Wasserwirtschaftsartikels eine Motion der vorberatenden Kommission, die den Bundesrat mit der Ausarbeitung eines Energiewirtschaftsartikels beauftragte. Bundespräsident Bonvin erklärte seinerseits die bestehenden Bundeskompetenzen als ungenügend [2]. Die Schweizerische Gesellschaft für Umweltschutz (SGU) betonte, dass in eine Gesamtenergiekonzeption vor allem Grundsatzentscheide und erst in zweiter Linie technische Details gehörten [3].
Die sich immer deutlicher abzeichnende Aussicht auf eine Lücke in der Energieversorgung und die starke Abhängigkeit von ausländischen Zufuhren gaben Anlass, einerseits vermehrte Sparsamkeit, anderseits eine Erweiterung der Produktion und ausserdem eine Diversifikation der Energieträger zu fordern [4]. Der Vorschlag der SVP, zur besseren Ausnützung der Tageslichtspanne die Sommerzeit einzuführen, und der in Zürich praktizierte Versuch eines Stromspartages hatten dabei eher symbolischen Charakter. Das gleiche gilt für die Empfehlung, die Strassen- und Reklamebeleuchtung einzuschränken, da für diese hauptsächlich nicht lagerbare Randenergie verwendet wird [5]. Heftiger umstritten waren Vorstösse, welche mit Energierestriktionen zugleich Wachstumspolitik verbinden wollten. Es wurde besonders befürchtet, dass auf eine künstliche Drosselung des Energiekonsums eine drastische Senkung des Realeinkommens und damit des Lebensstandards folgen würde. Auch gegen eine Rationierung meldeten sich Bedenken, wobei auf die Schwierigkeit hingewiesen wurde, den verschiedenen sozialen und wirtschaftlichen Ansprüchen gerecht zu werden [6]. Es erregte deshalb Aufsehen, als das EVED eine Weisung des Departementsvorstehers veröffentlichte, in der das Amt für Energiewirtschaft zu vorsorglichen Massnahmen für eine Anordnung von Einschränkungen im Stromverbrauch aufgefordert wurde. Man verstand diesen Akt als eine bewusste Warnung der Öffentlichkeit vor der sich entwickelnden Knappheitssituation, mit der das EVED freilich das Risiko einging, der Druckausübung zugunsten des Kemkraftwerkbaus bezichtigt zu werden [7]. Im hydrographischen Jahr 1972/73 resultierte, dank besserer Wasserführung im Sommer 1973 und voller Ausnützung des Kernkraftwerkes Mühleberg, wiederum ein Exportüberschuss (im Vorjahr Importüberschuss) in der Energiebilanz [8].
 
[1] Vgl. M. Kohn, „Perspektiven der schweizerischen Energiepolitik“, in Schweizer Monatshefte, 53/1973-74, S. 754 ff. und H. C. Binswanger, „Von der Energieprognose zur Energieplanung“, in NZZ, 346, 29.7.73 ; ferner F. Kneschaurek, „Energie, Elektrizität und Umwelt“, in Bulletin des Schweizerischen Elektrotechnischen Vereins (SEV), 64/1973, S. 875 ff. ; A. Peter (NZ, 56, 60, 66, 68, 75, 80, 19.2.-12.3.73), E. Tondeur (TA, 152, 4.7.73) und BN, 86, 11.4.73 ; NZZ, 310, 8.7.73 ; Tat, 185, 11.8.73 ; Bund, 163, 16.7.73. Vgl. auch SPJ, 1972, S. 85 f.
[2] Motion Künzi : Amtl. Bull. NR, 1973, S. 1194 f. ; Amtl. Bull. StR, 1973, S. 788 ff. ; NZZ, 190, 26.4.73. Motion der NR-Kommission : Amtl. Bull. NR, 1973, S. 1336 ; zum Wasserwirtschaftsartikel vgl. unten, S. 107 f. Voten BR Bonvins und StR Jauslins : Amtl. Bull. StR, 1973, S. 261 ff. Der StR lehnte die 1972 überwiesene Motion Jaeger (ldu, SG) zum Schutz vor Atomkraftwerken auf Antrag BR Bonvins ab (Amtl. Bull. StR, 1973, S. 187 ff. ; Tat, 67, 21.3.73 ; vgl. auch SPJ, 1972, S. 85).
[3] Vgl. NZZ, 493, 24.10.73 ; ferner : NZZ (sda), 161, 6.4.73 ; 177, 16.4.73 ; Ldb, 209, 11.8.73.
[4] Vgl. zur Versorgungslücke u. a. BR Bonvin (Documenta, 1973, Nr. 6, S. 26 ff.), H. R. Siegrist (Documenta, 1973, Nr. 7, S. 14 ff. und NZ, 199, 29.6.73), W. Kähr, „Die Entwicklung des Energieverbrauchs der Schweiz im Zeitraum 1950 bis 1970 und Vorschau auf das Jahr 2000“, in Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 109/1973, S. 385 ff., „Vorschau auf die Elektrizitätsversorgung der Schweiz 1972-1980“ (Zehnwerkebericht des Verbandes Schweizerischer Elektrizitätswerke, VSE), in Bulletin SEV, 64/1973, S. 319 ff. Vgl. zur Sparsamkeit das Postulat Oehen (na, BE) (Amtl. Bull. NR, 1973, S. 1728 ff.), BR Bonvin (Amtl. Bull. NR, 1973, S. 1406 f.), ferner Bund, 176, 31.7.73 ; 283, 3.12.73. Vgl. zur Diversifikation BR Bonvin (Amtl. Bull. NR, 1973, S. 1869 f.).
[5] Sommerzeit : BZ, 131, 7.6.73 ; TA, 192, 21.8.73. Stromspartag : .NZZ, 398, 29.8.73 ; 413, 6.9.73 ; NZ, 277, 5.9.73 ; 278, 6.9.73 ; TG, 209, 8./9.9.73. Strassenbeleuchtung : TG, 272, 21.11.73.
[6] Wachstumspolitik : Tat, 201, 30.8.73 ; NZZ, 560, 2.12.73. Lebensstandardsenkung : Tw, 88, 14.4.73 ; BN, 235, 8.10.73 ; NZZ, 465, 8.10.73. Rationierung : Ldb, 66, 21.3.73 ; Vat., 185, 11.8.73 ; Bund, 192, 19.8.73.
[7] BN, 149, 29.6.73 ; Bund, 149, 29.6.73 ; NZZ (sda), 295, 29.6.73 ; 298, 1.7.73 ; Tw, 153, 4.7.73 ; ferner : GdL, 303, 29./30.12.73.
[8] Das hydrographische Jahr dauert vom 1.10. bis zum 30.9. Der Verbrauch stieg um 5,8 % (Vorjahr 3,8 %), die Produktion wurde um 9,1 % auf 34 744 Mio KWh gesteigert, der daraus resultierende Ausfuhrüberschuss betrug 3240 Mio KWh, wobei aber für das Winterhalbjahr ein Einfuhrüberschuss von 256 Mio KWh zu verzeichnen war (NZZ, sda, 584, 16.12.73 ; 33, 21.1.74). Vgl. auch E. Keppler, „Die Schweizerische Elektrizitätswirtschaft“, in Wirtschaftspolitische Mitteilungen, 29/1973, Heft 7. Vgl. SPJ, 1972, S. 86.