Année politique Suisse 1973 : Infrastruktur und Lebensraum / Verkehr und Kommunikation
 
Agglomerationsverkehr
Dem Verlangen der Grossstädte nach einer gesetzlichen Grundlage für die Förderung des Agglomerationsverkehrs begegnete der Bundesrat weiterhin mit Zurückhaltung. Die laufenden Arbeiten an einem entsprechenden Gesetz wurden denn auch weitgehend unterbrochen und an die Kommission für die Gesamtverkehrskonzeption übergeben [11]. Der Bundesrat erklärte ferner, dass die Städte vorerst keine finanzielle Bundeshilfe für den Agglomerationsverkehr erwarten könnten [12]. Er verordnete jedoch auf Anfang 1974 eine Erweiterung des Vortrittsrechts zugunsten der Linienbusse [13].
Besonders umstritten waren die Probleme des Agglomerationsverkehrs im Raum Zürich, wo das kombinierte Projekt einer Untergrundbahnlinie Kloten-Dietikon (U-Bahn) und einer Schnellbahnverbindung zwischen dem Stadtzentrum und dem östlichen Teil der Region (S-Bahn) zur Debatte stand [14]. Im Mai lehnten die Stimmbürger sowohl die kantonale wie die städtische Kreditvorlage für dieses Projekt deutlich ab [15]. Dieser Ausgang überraschte nicht wenig, hatten doch die Legislativen des Kantons und der U-Bahn-Gemeinden den verlangten Krediten deutlich zugestimmt [16]. Auch die Mehrzahl der kantonalen und städtischen Parteien sowie vor allem die Exponenten der Behörden und der Verwaltung hatten sich für das Projekt ausgesprochen [17]. Der Nationalrat war in der Erteilung der erforderlichen Konzession dem Ständerat gefolgt [18]. Gegen die Vorlage, die einen Ausweg aus dem Verkehrschaos eröffnen sollte, machten sich insbesondere das schon in anderen Zusammenhängen erwähnte Unbehagen gegenüber dem Wachstum und die Furcht vor der Spekulation mit Boden und Wohnraum geltend [19]. So entstand eine Grundwelle der Opposition, als deren Vorkämpfer die sozialdemokratische Stadtpartei, das Gewerkschaftskartell, die PdA und die Republikaner auftraten [20]. Sie konnte auch durch die Ankündigung und teilweise Durchführung von flankierenden Massnahmen zum Schutze der Wohnzonen nicht mehr geglättet werden [21]. Ebensowenig gelang es, den Vorwurf, das Projekt sei überdimensioniert und finanziell nicht tragbar, zu entkräften [22]. Die Gegner nahmen ausserdem Anstoss an der Verknüpfung der weniger umstrittenen S-Bahn-Vorlage mit dem U-Bahn-Projekt [23]. Trotz seiner zahlenmässigen Eindeutigkeit liess das Abstimmungsresultat die Behörden im Ungewissen darüber, welche konkrete Verkehrspolitik die Mehrheit nun eigentlich wünsche [24]. Dies umso mehr, als etwas später eine Tariferhöhung bei den Zürcher Verkehrsbetrieben, der die Linksparteien gleichfalls opponierten, überraschend stark angenommen wurde, während im Vorjahr eine entsprechende Vorlage gescheitert war [25].
Der Entscheid über das zweite hart umkämpfte Grossbauwerk des Zürcher Agglomerationsverkehrs, das sogenannte Nationalstrassen-Y, blieb noch offen. Das hängige Volksbegehren der SP für eine Zürcher Standesinitiative gegen das Y wurde vom Kantonsrat entgegen dem Antrag des Regierungsrates als gültig anerkannt. Das kantonale Parlament legte somit auf ein Anliegen der betroffenen Bevölkerung mehr Gewicht als auf die Kompetenzordnung im Bundesstaat. Eine staatsrechtliche Beschwerde einzelner Bürger gegen diesen Entscheid wurde vom Bundesgericht abgewiesen, wodurch die Idee des « in dubio pro popolo » über staatsrechtliche Bedenken den Sieg davontrug [26].
 
[11] Tat, 10, 13.1.73 ; Tw, 22, 27.1.73 ; Amtl. Bull. NR, 1973, S. 414. Vgl. SPJ, 1971, S. 101 ; 1972, S. 91. Vgl. zum Problemkreis Agglomerationsverkehr : C. Pfund, « Öffentlicher oder privater Verkehr in den Agglomerationen ?», in Wirtschaftspolitische Mitteilungen, 29/1973, Heft 2 ; Bund, 2, 4.1.73 ; ferner Äusserungen BR Bonvins am Internationalen Eisenbahnkongress (Documenta, 1973, Nr. 4, S. 17 ff.) und am Automobilsalon (Documenta, 1973, Nr. 2, S. 18).
[12] Vgl. die Antwort des BR auf eine Kleine Anfrage (Amtl. Bull. NR, 1973, S. 1409). Vgl. SPJ, 1972, S. 94.
[13] TA, 288, 11.12.73. Vgl. auch eine als Postulat überwiesene Motion R. Kohler (fdp, BE) (Amtl. Bull. NR, 1973, S. 863 ff.).
[14] Vgl. TA-Magazin, 13,'31.3.73 ; 14, 7.4.73. Vgl. auch SPJ, 1972, S. 91 f.
[15] Kanton : 177 362 Ja zu 234 230 Nein, Stimmbeteiligung 64 %. Stadt Zürich : 50114 Ja zu 123 210 Nein, Stimmbeteiligung 67 %. Von den vier weiteren U-Bahn-Gemeinden lehnten Dietikon und Schlieren ihre Gemeindevorlagen ab, während diesen von Kloten und Opfikon zugestimmt wurde (NZZ, 232, 21.5.73 ; TA, 116, 21.5.73). Vgl. auch TA, 117, 22.5.73 ; NZZ, 236, .23.5.73.
[16] So der Kantonsrat (NZZ, 95, 27.2.73 ; 96, 27.2.73), der Zürcher Gemeinderat (NZZ, 75, 15.2.73 ; 76, 15.2.73) und der Klotener Grosse Gemeinderat (NZZ, 88, 22.2.73).
[17] So die FDP (NZZ, 204, 4.5.73 ; 212, 9.5.73), die Jungfreisinnigen (NZZ, 214, 10.5.73), die CVP (NZZ, 165, 9.4.73 ; 223, 16.5.73), der Landesring (NZZ, 196, 30.4.73), die EVP (TA, 85, 11.4.73 ; NZZ, 210, 8.5.73), die SVP (TA, 106, 9.5.73). Die kantonale SP sprach sich dafür aus (AZ, 83, 9.4.73) während die stadtzürcherische SP offiziell dagegen war (AZ, 71, 26.3.73). Ein Aktionskomitee pro U- und S-Bahn mit prominenten SP-Vertretern distanzierte sich jedoch von diesem Beschluss (TA, 81, 6.4.73 ; 82, 7.4.73 ; 101, 3.5.73). Vgl. hierzu auch unten, S. 163. Stellungnahmen von Behörden : NZZ, 182, 18.4.73 ; 218, 13.5.73 ; 228, 18.5.73 ; TA, 110, 14.5.73 ; Tat, 115, 19.5.73.
[18] Amtl. Bull. NR, 1973, S. 161 ff.
[19] Wachstum : Ldb, 102, 5.5.73 ; NZZ, 210, 8.5.73 ; Bund, 111, 14.5.73 ; vgl. auch oben, S. 81 f. und unten, S. 104. Spekulation : AZ, 29, 5.2.73. Befürwortend : NZZ, 54, 2.2.73 ; 86, 21.2.73 ; 185, 22.4.73 ; 218, 13.5.73.
[20] SP : vgl. oben, Anm. 17. Gewerkschaften : AZ, 69/10, 23'24.3.73. PdA : NZZ (sda), 221, 15.5.73. Republikaner : Der Republikaner, 6, 4.5.73. Die SP der Stadt Zürich lancierte zugleich eine Initiative zur Förderung des öffentlichen Verkehrs (AZ, 71, 26.3.73 ; TA, 140, 20.6.73).
[21] AZ, 2728, 2./3.2.73 ; 114, 17.5.73 ; NZZ, 109, 7.3.73 ; 214, 10.5.73.
[22] Überdimensioniertheit : TA, 106, 9.5.73. Tragbarkeit : NZZ, 180, 17.4.73 ; 204, 4.5.73 ; 214, 10.5.73.
[23] Eine staatsrechtliche Beschwerde wurde vom Bundesgericht abgewiesen (NZZ, 193, 27.4.73).
[24] NZZ, 198, 1.5.73 ; 334, 22.7.73 ; 351, 1.8.73 ; 425, 13.9.73 ; 457, 3.10.73 ; 476, 14.10.73 ; 576, 11.12.73.
[25] Bund, 197, 24.8.73 ; NZZ, 405, 2.9.73 ; 433, 19.9.73 ; 562, 3.12.73. Vgl. auch SPJ, 1972, S. 92.
[26] Vgl. NZZ, 107, 6.3.73 (Kantonsrat) ; 161, 6.4.73 (Beschwerde) ; 233, 22.5.73 und 245, 29.5.73 (Begründung des Entscheids durch den Kantonsrat z.H. des Bundesgerichts) ; 446, 26.9.73 und 448, 27.9.73 (Bundesgerichtsentscheid). Vgl. auch SPJ, 1972, S. 92 f.