Année politique Suisse 1973 : Sozialpolitik / Bevölkerung und Arbeit
 
Gesamtarbeitsverträge
Zahlreiche neue Gesamtarbeitsverträge (GAV) markierten das Fortschreiten umfassender arbeitsvertraglicher Regelungen [35]. Besondere Erwähnung verdient der erste gesamtschweizerische Vertrag im Gastgewerbe, der die Arbeitszeit, die bis dahin bis zu 66 Stunden betragen hatte, auf 45 bis 54 Stunden verkürzt und eine Ferienregelung sowie Mindestansätze für die verschiedenen Lohnarten bringt. Er enthält auch eine Trinkgeldregelung, die das « Service inbegriffen » in der ganzen Schweiz einführt, sofern der Bundesrat die beantragte Allgemeinverbindlicherklärung ausspricht [36]. Mangels genügenden Organisationsgrades konnten die Arbeitnehmer des Coiffeurgewerbes in ihren Vertragsverhandlungen einen 13. Monatslohn nicht durchsetzen [37].
Einem alten Postulat folgend, beauftragte das EVD Prof. R. Jagmetti mit der Prüfung einer allfälligen Revision des Bundesgesetzes über die Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) von Gesamtarbeitsverträgen. Der Nationalrat überwies seinerseits ein Postulat zugunsten von Normalarbeitsverträgen in der Landwirtschaft [38].
Allgemeines Aufsehen erregte Ezio Canonica, als er nach Übernahme des Präsidiums des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes die absolute Friedenspflicht zwischen den Sozialpartnern in Frage stellte. Diese Stellungnahme hatte auch gewerkschaftsinterne Auseinandersetzungen zur Folge, namentlich im Hinblick auf die 1974 fällige Erneuerung des Friedensabkommens in der Uhren- und Metallbranche [39]. Hauptbegehren des Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiterverbandes (SMUV) waren neben materiellen Forderungen die Integration der Unorganisierten durch Erhebung eines Lohnprozentes zugunsten des bestehenden Partnerschaftsfonds, das zur Hälfte vom Arbeitgeber zu tragen wäre, die unbedingte Geltung der Schiedsgerichtsbarkeit sowie die Aufhebung der Schweigepflicht während der Verhandlungen ; an der absoluten Friedenspflicht wurde freilich festgehalten [40]. Der Christliche Metallarbeiterverband (CMV) setzte sich seinerseits insbesondere für die Mitbestimmung, einen bezahlten Bildungsurlaub sowie bessere Regelungen bei Betriebsschliessungen ein. Die Erneuerung des Friedensabkommens machte er von der Erfüllung der genannten Forderungen abhängig und befürwortete eine formale Umgestaltung des Abkommens in einen eigentlichen Gesamtarbeitsvertrag [41].
 
[35] Vgl. Stand der AVE von GAV (Die Volkswirtschaft, 45/1973, S. 498 f.) und neue GAV in Papierindustrie (gk, 4, 25.1.73), Maler- und Gipsergewerbe (gk, 2, 11.1.73), Bekleidungsindustrie (gk, 20, 24.5.73), Bankgewerbe (Bund, 280, 29.11.73), Elektroinstallationsgewerbe (NZZ, sda, 575, 11.12.73) ; die GAV-Kündigung durch die Fluglotsen (NZZ, sda, 288, 25.6.73) sowie die AVE des GAV im Schreinergewerbe (BBI, 1973, I, Nr. 7, S. 319 ff.).
[36] Ostschw. (ddp), 298, 20.12.73 ; TG, 297, 20.12.73 ; vgl. SPJ, 1972, S. 120.
[37] GdL (sda), 36, 13.2.73 ; Bund, 122, 27.5.73 ; 206, 4.9.73.
[38] Vgl. die als Postulat überwiesene Motion Canonica (sp, ZH) (Amtl. Bull. NR, 1972, S. 1666 ff.) ; NZZ (sda), 286, 24.5.73. Postulat Gassmann (sp, BE) : Amtl. Bull. NR, 1973, S. 1145 f.
[39] Ldb, 66, 21.3.73 ; NBZ, 115, 9.4.73 ; NZZ, 268, 13.6.73 ; BN, 136, 14.6.73. Vgl. unten, S. 169.
[40] NZZ (sda), 445, 26.9.73 ; 448, 27.9.73 ; VO, 223, 27.9.73 ; TLM, 272, 29.9.73 ; TG, 228, 1.10.73. Vgl. auch B. Zanetti, „Gewerkschaftsfreiheit und obligatorische Beiträge der nichtorganisierten Arbeitnehmer“, in Gewerkschaftliche Rundschau, 65/1973, S. 193 ff. und P. Kreis, Der Anschluss eines Anssenseiters an den Gesamtarbeitsvertrag, Zürich 1973. Vgl. unten, S. 170.
[41] NZZ (sda), 292, 27.6.73 ; 471, 11.10.73 ; CMV-Zeitung, 14/15, 11.7.73 ; 21, 17.10.73.