Année politique Suisse 1973 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen
 
Ausländerpolitik
Die Ausländerpolitik des Bundesrates war nach wie vor auf die Stabilisierung der erwerbstätigen Ausländer und die Schaffung eines möglichst einheitlichen Arbeitsmarktes ausgerichtet, und dies mit Erfolg [1]. Da die Rechtsgruppen jedoch die ausländische Wohnbevölkerung zum Massstab ihrer Beurteilung der Entwicklung nahmen, verurteilten sie Bundesrat Bruggers Ausländerpolitik als unwirksam, was dieser entschieden bestritt [2]. Aber ebenso bestimmt wandte sich Bundesrat Brugger gegen verschiedene Vorstösse zugunsten einer grosszügigeren Handhabung der Saisonnierbewilligungen aus Kreisen der SVP und des Gastgewerbes [3]. Sprecher des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) stellten hierzu fest, dass zwar das Stabilisierungsversprechen noch nicht gebrochen worden sei, die offizielle Politik jedoch mit den Arbeitgebern zu mild und — angesichts der prekären Wohnungssituation — mit weiten Bevölkerungskreisen zu hart umgehe [4]. Sie traten aber wie auch ein Exponent des Christlichnationalen Gewerkschaftsbundes (CNG) für eine grosszügigere Einbürgerungspraxis ein. In dieser Richtung zielte nach der Expertenkommission für eine Revision der Bürgerrechtserteilung auch die Eidgenössische Konsultativkommission für die Behandlung des Überfremdungsproblems [5].
Um der « Unterwanderung » seiner Stabilisierungspolitik durch Saisonniers und den Missbräuchen im Grenzgängerwesen zu begegnen, schickte der Bundesrat Ende Mai den Entwurf eines neuen Fremdarbeiterbeschlusses in eine kurze Vernehmlassung [6]. In gewerblichen, insbesondere gastgewerblichen Kreisen und in verschiedenen Kantonen stiess die Absicht, auch die Saisonarbeitskräfte zu limitieren, auf heftige Ablehnung ; umgekehrt erklärten die Nationale Aktion und die Republikaner die vorgesehenen Beschränkungen als völlig ungenügend [7]. Italienische Regierungskreise wiederum klagten über einen Verstoss gegen die bestehenden Abkommen und veranlassten namentlich eine Suspension der Gespräche der Gemischten Kommission für ein schweizerisch-italienisches Einwanderungsabkommen [8]. All dessen ungeachtet trat am 15. Juli der neue Bundesratsbeschluss über die Begrenzung der Zahl der erwerbstätigen Ausländer in Kraft. Er brachte hauptsächlich eine Limitierung der seit 1969 stark gestiegenen Zahl der Saisonarbeitskräfte auf 192 000, eine Halbierung des für die Zulassung neuer Jahresaufenthalter verfügbaren Kontingentes auf 10 000, von denen vorläufig bloss 5000 freigegeben wurden, und eine neue Einschränkung für Grenzgänger, die nun erst nach 6 Monaten Wohnsitz in der Grenzzone eine Arbeitsbewilligung erhalten [9]. Diese Grenzgängerregelung gab vor allem in Basel wegen der unklaren Zonendefinition zu diskutieren [10]. Schärfere Kontrollen, die besonders den durch « Schlepper » eingeschleusten bewilligungslosen Schwarzarbeitern beikommen sollen, kündete die Eidgenössische Fremdenpolizei an [11]. Deren Direktor, E. Mäder, trat auf Jahresende zurück ; sein Nachfolger, Guido Solari, nahm vor der Interessengemeinschaft der Beratungsund Kontaktstellen Schweizer-Ausländer (IGSA) eine umfassende Standortbestimmung zum Ausländerproblem aus fremdenpolizeilicher Sicht vor [12].
Die 1972 von der Nationalen Aktion eingereichte dritte Überfremdungsinitiative, der im Mai auch der Führer der Republikaner, Nationalrat Schwarzenbach, überraschend seine Unterstützung zusagte, stiess besonders in Kreisen der Arbeitgeber und des Gastgewerbes auf heftige Ablehnung [13]. Auch der BIGA-Direktor, Botschafter Grübel, übte wegen der zu erwartenden « schwerwiegenden Folgen » scharfe Kritik, während Waldemar Jucker vom SGB einen Gegenvorschlag des Bundesrates verlangte, damit das Volk endlich zu etwas ja sagen könne [14]. Der Bundesrat beantragte jedoch in seiner letzten Sitzung des Jahres dem Parlament die Ablehnung ohne Gegenvorschlag, weil die Forderungen den Arbeitsmarkt in unverantwortbarer Weise belasten würden und zudem zu internationalen Schwierigkeiten führen könnten [15]. In diesem Zusammenhang wäre auch zu bedenken, dass das bereits demographisch bedingte Fallen der Erwerbstätigenquote durch solche Forderungen nur noch akzentuiert würde, was sich nebst dem Arbeitsmarkt besonders auch auf die umfassende Verwirklichung der Sozialversicherung negativ auswirken könnte [16].
Im Gegensatz zu einer bloss numerischen Betrachtungsweise standen Versuche, das Ausländerproblem auch menschlich zu bewältigen. So ein Sonntag der Solidarität mit den Ausländern in der römisch-katholischen Kirche, die positiven Erfahrungen der seit Februar in der IGSA zusammengeschlossenen zahlreichen Beratungsund Kontaktstellen sowie das Experiment « Wir in der Schweiz » des Partnerschaftsfonds. Aber auch die zahlreichen lokalen Verständigungsbestrebungen, vorwiegend in Schulfragen, und die verschiedenen Äusserungen zugunsten einer menschlichen Ausländerpolitik, besonders aus Kreisen des CNG, verdienen erwähnt zu werden [17]. Einen politischen Vorstoss in diesem Sinne unternahm die Katholische Arbeiter- und Angestelltenbewegung (KAB) mit der Lancierung einer Volksinitiative. Die Initiative will nicht vom Prinzip der Stabilisierung abweichen, jedoch die Gleichbehandlung von Schweizern und Ausländern nach den Menschenrechtsnormen sowie die Assimilation jener erreichen, die in der Schweiz bleiben wollen. Die daraus entstehenden Kosten sollen durch Beteiligung der Arbeitgeber nach der Anzahl der von ihnen beschäftigten Ausländer mitgetragen werden [18]. Vorläufig bezogen die Mehrzahl der Parteien, der CNG — der SGB schwieg sich noch aus — und die Kirchen positiv Stellung, während der Vorort der Initiative nur bedingt zustimmte, das Gewerbe sie jedoch ablehnte [19]. Die direkt Betroffenen stehen besonders einer von ihnen als « Kopfgeld » apostrophierten Kostenbeteiligung der Arbeitgeber ablehnend gegenüber, weil sie von einer solchen unvorteilhafte Auswirkungen auf die Lohngestaltung befürchten [20].
Um eine gewisse Integration der Ausländer bemühte sich auch die italienische Emigrantenorganisation Federazione Colonie Libere Italiane (FCLI). Sie setzte sich besonders für die Abschaffung des Saisonarbeiterstatutes ein und sprach sich für die Integration der Italienerkinder in Schweizerschulen aus. Mit zusätzlichen Deutsch- und Italienischstunden will sie einerseits die Chancengleichheit in der Schweiz, anderseits aber auch die Rückkehrmöglichkeit nach Italien wahren [21]. Die FCLI wandte sich ferner, zusammen mit sozialistischen und kommunistischen Emigrantengruppen Italiens, gegen neofaschistische Bestrebungen, in der Schweiz eine Organisationsbasis unter italienischen Emigranten zu errichten [22]. Ausschreitungen anlässlich der Eröffnung eines Büros der Ente nazionale di assistenza sociale (ENAS, eine den Neofaschisten nahestehende Fürsorgeinstitution) in Bern und die Beteiligung von Ausländern an einer Vietnam-Demonstration in Zürich gaben zu verschiedenen parlamentarischen Vorstössen Anlass, welche die politische Tätigkeit von Ausländern in der Schweiz betrafen [23]. Weniger politisch waren verschiedene Kritiken an den Gastarbeiterunterkünften, die in Genf in eine Protestaktion der Asociación de Trabajadores Emigrantes Espanioles en Suiza (ATEES) gegen die Unterbringung spanischer Saisonniers ausmündeten [24].
 
[1] Stand der erwerbstätigen Ausländer am 31.8.73 : Jahresaufenthalter : 322 513 (—32 637 gegenüber 1972), Niedergelassene : 276 568 (+ 34 195), Saisonarbeiter : 193 766 (— 2866), Grenzgänger : 104 573 (+ 7370). Die für die Überfremdung relevanten Jahresaufenthalter und Niedergelassenen haben zusammen innert Jahresfrist um 1558 oder 0,3 % zugenommen ; betrachtet man alle vier Kategorien, ist eine Zunahme von 6062 oder 0,7 % zu verzeichnen (Die Volkswirtschaft, 46/1973, S. 683 ff.) ; vgl. ferner : Documenta, 1973, Nr. 8, S. 15 ff. ; NZZ, 135, 22.3.73.
[2] Amtl. Bull. NR, 1973, S. 759 ff., 833 ff. Stand der ausländischen Wohnbevölkerung am 31.12.73 : 1 052 505 (31.12.72 : 1 032 285) (NZZ, 166, 9.4.74).
[3] Postulat Rubi (sp, BE) : Amtl. Bull. NR, 1973, S. 392 ; Kleine Anfrage Baumann (svp, AG) : Amtl. Bull. NR, 1973, S. 1414 ; Diskussion Geschäftsbericht EVD : Amtl. Bull. NR, 1973, S. 759 ff. ; hierzu auch Postulat Leutenegger (svp, ZH) : Amtl. Bull. NR, 1973, S. 1142 ff. Kritik erhob sich besonders auch wegen der Beschränkung von Neuzuteilungen durch Umwandlung „unechter“ Saisonarbeiter in Jahresaufenthalter (Vat., 110, 12.5.73).
[4] NZZ (sda), 147, 29.3.73 ; Tw, 76, 31.3.73.
[5] Tat, 14, 18.1.73 ; Ldb, 70, 26.3.73 ; NZZ, 218, 13.5.73 ; 229, 19.5.73 ; Domaine public, 247, 1.11.73. Vgl. auch oben, S. 13.
[6] BN, 124, 29.5.73 ; Ldb, 122, 29.5.73 ; NZZ, 246, 29.5.73 ; TA, 123, 29.5.73 ; Tat, 123, 29.5.73 ; TG, 124, 29.5.73 ; Vat., 124, 29.5.73.
[7] Vgl. zum Gastgewerbe : GdL, 127, 2./3.6.73 ; 130, 6.6.73 ; zum Gewerbe : GdL (sda), 141, 20.6.73 ; Vat., 143, 23.6.73 ; zu den Kantonen : Bern : Bund, 143, 22.6.73 ; Luzern : NZZ, 271, 15.6.73 ; Freiburg : Lib., 210, 14.6.73 ; Baselstadt : NZ, 117, 9.6.73 ; Aargau : NZ, 203, 2.7.73 ; Wallis : TLM, 174, 23.6.73 ; zu den Republikanern: Der Republikaner, 8, 15.6.73 ; zur NA : NZZ (sda), 276, 18.6.73.
[8] TG, 153, 4.7.73 ; vgl. weitere Intervention .n im Europa-Parlament (TG, 249, 25.10.73 ; NZZ, 550, 26.11.73 ; Bund, 292, 13.12.73), im römischen Parlament (GdL, 232, 5.10.73) und in der Diplomatie (TA, 234, 9.10.73 : TG, 235, 9.10.73).
[9] AS, 1973, Nr. 27, S. 1098 ff.
[10] BN, 159, 11.7.73 ; 163, 16.7.73 ; TA, 158, 11.7.73 ; NZ, 214, 12.7.73 ; 220, 221, 222, 17.-19.7.73.
[11] NZZ (sda), 298, 1.7.73 ; ferner hierzu : TA, 7, 10.1.73 ; 13, 17.1.73 ; 64, 17.3.73 ; 139, 19.6.73 ; NZZ (sda), 278, 19.6.73.
[12] Documenta, 1973, Nr. 8, S. 24 ff. ; NZZ, 496, 25.10.73.
[13] Vgl. SPJ, 1972, S. 113 f. ; ferner Der Republikaner, 7, 123.72 ; 7, 25.5.73 ; TA, 122, 28.5.73 ; SAZ, 68/1973, S. 903 ff. ; GdL, 226, 28.9.73. Vgl. unten, S. 166 f.
[14] Tat, 234, 9.10.73 ; NZZ, 533, 16.11.73.
[15] Ldb, 297, 22.12.73 ; TG, 299, 22.12.73 ; NZZ, 596, 23.12.73 ; 17, 11.1.74.
[16] Vgl. oben, S. 110 und unten, S. 121 ff. ; ferner NZZ, 148, 29.3.73 ; Solothurner Zeitung, 184, 9.8.73.
[17] Vgl. G. Casetti in CMV-Zeitung, 10, 16.5.73 ; A. Heil, « Der ausländische Arbeitnehmer », in Schweizer Rundschau, 6/1973, S. 397 ff. ; E. Trümpler, Leben mit Ausländern, Schaffhausen 1973 ; H. J. Hoffmann-Novotny, Soziologie des Fremdarbeiterproblems, Stuttgart 1973. Vgl. ferner zum Solidaritätssonntag : AZ, 120, 24.5.73, zum Partnerschaftsfonds : NZZ, 116, 13.4.73 und zur IGSA : NZZ (sda), 51, 1.2.73 ; 503, 30.10.73.
[18] Vat., 77, 2.4.73 ; 261, 10.11.73 ; 262, 12.11.73; NZZ, 528, 13.11.73 ; Tat, 274, 24.11.73.
[19] Tat, 234, 9.10.73 ; NZ, 351, 10.11.73 ; AZ, 279, 29.11.73.
[20] Ostschw., 280, 29.11.73. Der Zürcher Kantonsrat lehnte seinerseits eine Motion der NA zur Einführung einer solchen Infrastrukturabgabe ab (NZZ, 527, 13.11.73).
[21] AZ, 26, 1.2.73 ; NZZ, 53, 2.2.73 ; TA, 116, 21.5.73 ; 117, 22.5.73 ; vgl. unten, S. 132.
[22] Bund, 66, 20.3.73 ; TG, 69, 23.3.73.
[23] Zum « Alfa-Krawall » in Bern : NZZ, 141, 26.3.73 ; GdL, '72, 273.73 ; Bund, 76, 1.4.73 ; zur Vietnam-Demonstration in Zürich : NZZ, 33, 22.1.73. Vorstösse im eidg. Parlament : Kleine Anfragen Schmid (sp, SG) und Jaeger (ldu, SG) : Amtl. Bull. NR, 1973, S. 1005 f. ; im Zürcher Kantonsrat : NZZ, 162, 6.4.73 ; vgl. ferner zu diesem Thema : NZZ, 153, 2.4.73 ; 176, 15.4.73 ; 225, 17.5.73 ; 337, 24.7.73 ; vgl. auch oben, S. 15 und unten, S. 167.
[24] VO, 176, 2.8.73 ; 195, 24.8.73 ; TG, 185, 4./5.8.73 ; JdG, 196, 23.8.73 ; ferner GdL, 147, 27.6.73 ; NZ, 214, 12.7.73 ; 275, 3.9.73.