Année politique Suisse 1974 : Allgemeine Chronik / Schweizerische Aussenpolitik / Aussenwirtschaftspolitik
Die Beziehungen zwischen der Schweiz und den
Europäischen Gemeinschaften (EG) standen im Zeichen einer Konsolidierung
[61]. Im Rahmen des Freihandelsabkommens wurden die Zölle am 1. Januar um weitere 20 % gesenkt ; über die Auswirkungen des nunmehr vierzigprozentigen Zollabbaus auf das Preisniveau und die Handelsströme lassen sich indessen noch keine eindeutigen Aussagen machen
[62]. Der Gemischte Ausschuss beschäftigte sich neben Verfahrensfragen insbesondere mit dem im Frühjahr durch Italien erlassenen Importdepot
[63]. Diese einseitige Massnahme zur Wiederherstellung des Zahlungsbilanzgleichgewichtes traf schweizerischerseits vor allem die Uhren-, Textil- und Agrarexporte, weshalb unsere Behörden auch direkt in Rom intervenierten, und zwar mit Erfolg
[64]. Das zwischen der Schweiz und der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl bestehende Transitabkommen aus dem Jahre 1956 wurde auf die drei neuen EG-Mitgliedstaaten Dänemark, Grossbritannien und Irland erweitert
[65]. Im Anschluss an den negativen Ausgang der Abstimmung über die Sanierung der Bundesfinanzen forderte Nationalrat Schwarzenbach die Kündigung des Freihandelsabkommens, um fortan die entsprechenden Zollausfälle zu vermeiden
[66].
Auch an den beiden
EFTA-Ministertagungen in Genf und Helsinki stand die veränderte Weltwirtschaftslage im Vordergrund der Gespräche. Wiederholt warnte Bundespräsident Brugger als Leiter der Schweizer Delegation vor unilateralen Aktionen und befürwortete nebst individueller und kollektiver Disziplin eine weltweit konzertierte Politik. Grosse Aufmerksamkeit schenkte man ferner dem weiteren Abbau von nichttarifarischen Handelshindernissen
[67].
Wachsende Desintegrationserscheinungen erschwerten die Vorbereitungen der bereits 1972 angekündigten Welthandelsrunde des
GATT
[68]. Mit der Verabschiedung der neuen Handelsgesetzgebung (Trade Bill) der USA am Jahresende ist jedoch das Haupthindernis des eigentlichen Verhandlungsbeginnes beseitigt worden
[69]. Ein 1973 im Rahmen des GATT zustandegekommenes Abkommen über den internationalen Textilhandel trat am 1. Januar in Kraft. Es hat eine schrittweise und harmonische Liberalisierung zum Ziele, wobei ein multilaterales Organ die Einhaltung der Vereinbarungen überwacht. Zu dessen erstem Präsidenten wurde der Schweizer Botschafter Wurth gewählt. Vorwiegend handelspolitische Gründe veranlassten den Bundesrat, das Abkommen bereits im Juni, also vor der im Herbst erteilten parlamentarischen Genehmigung, provisorisch in Kraft zu setzen
[70].
Mit der einmütigen Annahme einer Stillhalteerklärung bewiesen die Mitgliedstaaten der
OECD an einer Ministertagung, dass es ihnen trotz der herrschenden Schwierigkeiten mit der Aufrechterhaltung der erreichten Liberalisierung im Welthandel ernst war. Die Erklärung wurde vom Exekutivausschuss in Sondersession unter dem Vorsitz von Botschafter Jolies ausgearbeitet. Die Mitgliedstaaten verpflichten sich darin, für eine erste Jahresperiode keine neuen Handelsrestriktionen zum Ausgleich von Zahlungsbilanzdefiziten zu erlassen. Damit sollen unerwünschte Kettenreaktionen vermieden und Zeit für Konsultationen gewonnen werden. Weitere Tagungsgegenstände betrafen die Inflationsbekämpfung, für welche Bundespräsident Brugger eine unbedingte internationale Abstimmung der nationalen Massnahmen forderte, sowie die bedrohliche Verschlechterung der finanziellen Lage verschiedener Entwicklungsländer
[71].
Von den Arbeiten der Ausschüsse seien jene im Zusammenhang mit der Erdölkrise hervorgehoben
[72]. In Übereinstimmung mit den Beschlüssen der Energiekonferenz von Washington, welche im Februar die Aussen-, Finanz- und Energieminister der wichtigsten Ölverbraucherländer zur Absprache gemeinsamer Schritte in der Krisenvorsorge und Krisenbewältigung vereinigte
[73], prüfte ein « Energy Coordination Group », wie eine rationellere Verwendung und Verteilung der Energie sowie eine Beschleunigung des Ausbaus neuer Energiequellen verwirklicht werden könnten
[74]. Diese Bestrebungen führten schliesslich am 18. November zu einem Übereinkommen über ein Internationales Energieprogramm (IEP). Zu dessen Durchführung wurde unter den Auspizien der OECD eine
Internationale Energie-Agentur gebildet
[75]. Das IEP enthält ein Aktionsprogramm (« Oil-Sharing »), welches in Notlagen die Versorgung mit Erdöl und Erdölprodukten sicherstellen soll. Zudem sollen engere Beziehungen zwischen Regierungen und Erdölgesellschaften geschaffen sowie die Markttransparenz verbessert werden. Ferner wird eine langfristige Zusammenarbeit zur Entwicklung alternativer Energiequellen angestrebt
[76]. Der Bundesrat zeigte sich seit Anbeginn an der Entstehung dieses Energieprogrammes interessiert
[77]. Nachdem gemeinsam mit Schweden und österreich
[78] die neutralitätsrechtlichen Aspekte geprüft worden waren, beschloss er, das Abkommen unter Vorbehalt der parlamentarischen Ratifikation und der Abgabe einer Neutralitätserklärung zu unterzeichnen
[79]. Dieser Schritt setzte die bisher von der. Schweiz verfolgte Politik einer multilateralen Bewältigung der Schwierigkeiten in der Weltwirtschaft fort
[80]. Bemerkenswert ist immerhin die Übertragung eines Teiles der Entscheidungsfreiheit an eine Instanz (Verwaltungsrat), in welcher der Schweiz nur ein kleines Stimmengewicht zufällt. Nach dem vorgesehenen Auslösemechanismus für Notstandsmassnahmen könnte beispielsweise der Verwaltungsrat mit Stimmenmehrheit beschliessen, dass innert 48 Stunden eine verstärkte obligatorische Nachfragedrosselung eingeführt werde, was für alle Teilnehmerstaaten bindend wäre
[81]. Der Vertrag bringt rechtlich die starke Auslandverflechtung der schweizerischen Wirtschaft zum Ausdruck, über welche in einem anderen Zusammenhang ein Postulant seine Bedenken äusserte
[82].
Im Rahmen der
UNCTAD setzte die Schweiz ihre Bemühungen zugunsten der Entwickhingsländer fort
[83]. Der UNCTAD-Rat befasste sich namentlich mit zwei an einer ausserordentlichen UNO-Generalversammlung gefassten Resolutionen über die « Errichtung einer neuen internationalen Weltwirtschaftsordnung ». Der Schweizer Vertreter brachte hierzu verschiedene Vorbehalte an, besonders in bezug auf die darin geforderte Schaffung von Produzentenorganisationen und die weltweite Indexierung der Rohstoffpreise ; ein Sonderprogramm zugunsten der einkommensschwächsten Entwicklungsländer fand dagegen seine volle Unterstützung
[84]. In verschiedenen UNCTAD-Ausschüssen wurde zudem nach Möglichkeiten gesucht, den Transfer technischen Wissens an die Entwicklungsländer zu fördern, die nichttarifarischen Handelshemmnisse abzubauen sowie die Schuldenlast der Entwicklungsländer in den Griff zu bekommen
[85]. Ferner wurde das allgemeine Präferenzsystem aus dem Jahre 1970 überprüft
[86]. Im Rahmen des schweizerischen Zollpräferenzsystems zugunsten der Entwicklungsländer setzte der Bundesrat im Frühjahr die zweite Stufe in Kraft. Dadurch können nun die meisten Industrieprodukte aus diesen Ländern zollfrei importiert werden, und auf gewissen Agrarprodukten wird eine Zollreduktion gewährt
[87]. Eine Gruppe hochgestellter Persönlichkeiten, darunter alt Bundesrat Schaffner, beschäftigte sich mit dem Verhältnis zwischen den multinationalen Gesellschaften und den Entwicklungsländern. Sie formulierte zuhanden des Auftraggebers, des Wirtschafts- und Sozialrates der UNO (ECOSOC), verschiedene Empfehlungen, welchen sich indessen nicht alle Mitglieder der Gruppe anschliessen konnten
[88]. An einer Konferenz unter den Auspizien der UNCTAD wurde ein Verhaltenskodex für Regelungen in der Linienschiffahrt verabschiedet. Dieser enthält einen neuen Verteilerschlüssel für die weltweiten Gütertransporte, welcher zwar Entwicklungsländer allgemein bevorzugt, jedoch nach Ansicht verschiedener Industriestaaten keine ausgewogene Lösung darstellt ; diese Staaten, darunter auch die Schweiz, stimmten daher gegen die Konvention und werden sie voraussichtlich nicht unterzeichnen
[89]. Im Rohstoffbereich beschloss der Internationale Kaffeerat angesichts der noch immer erfolglos gebliebenen Verhandlungen über ein neues Kaffeeabkommen, das geltende Obereinkommen um ein weiteres Jahr zu verlängern. Im Rahmen des internationalen Kakaoabkommens wurden die Richtpreise erhöht, um den gestiegenen Produktionskosten Rechnung zu tragen und eine Produktionsausweitung zu fördern ; auf Antrag der Schweiz sollen zudem im Hinblick auf eine künftige Anbaupolitik die Produktionskapazität und die Nachfrageentwicklung geprüft werden. Der Beitritt der Schweiz zum internationalen Zuckerübereinkommen wurde vorläufig zurückgestellt, da dieses Abkommen erst administrative Bestimmungen enthält und für unsere Versorgungslage keine Vorteile brächte
[90]. Die Steigerung der Agrarproduktion in den vom Hunger bedrohten Entwicklungsländern beschäftigte eine von der UNO einberufene Welternährungskonferenz in Rom
[91].
[61] Vgl. BBI, 1974, II, Nr. 33, S. 349 ff. ; 1975, I, Nr. 6, S. 550 f. ; Vat., 253, 31.10.74 (Botschafter Jolles) ; Europa, 41/1974, Heft 4/5 (Hearing Schweiz-EG der Europa-Union Schweiz). Vgl. ferner zu internen Schwierigkeiten in den EG : NZ, 68, 2.3.74 ; 127, 24.4.74 ; Bund, 152, 3.7.74 ; 153, 4.7.74.
[62] NZZ, 7, 6.1.74 ; 61, 6.2.74 ; Vat., 292, 17.12.74. Vgl. ferner zu den Zöllen : NZ, 203, 2.7.74.
[63] BBI, 1974, II, Nr. 33, S. 349 ff. ; 1975, I, Nr. 6, S. 550 f. ; NBZ, 163, 25.5.74.
[64] BBI, 1974, II, Nr. 33, S. 372 ; 1975, I, Nr. 6, S. 567 ; JdG, 100, 1.5.74 ; 103, 4./5.5.74 ; 107, 9.5.74 ; TG, 100, 1.5.74 ; 102, 3.5.74 ; NZZ, 202, 3.5.74 ; 210, 8.5.74 ; TA, 102, 4.5.74 ; 147, 28.6.74; NZ, 140, 6.5.74 ; 142, 8.5.74.
[65] BBI, 1975, I, Nr. 6, S. 552 ; NZZ (sda), 463, 12./13.10.74.
[66] Vgl. Motion Schwarzenbach (rep, ZH) (Verhandl. B. vers., 1975, I/II, S. 47 ; TA, ddp, 286, 9.12.74). Vgl. zu weiteren solchen Bestrebungen : NZZ, 511, 7./8.12.74.
[67] Genf : NZZ, 213, 9.5.74 ; 214, 10.5.74 ; JdG, 108, 10.5.74. Helsinki : NZZ, 480, 1.11.74 ; 481, 2./3.11.74 ; Ldb, 254, 2.11.74 ; EFTA-Bulletin, 15/1974, Heft 9. Vgl. ferner : EFTA-Bulletin, 15/1974, Heft 6 (Entwicklung der EFTA) ; 16/1975, Heft 3 (EFTA-Handel 1974) ; 15/1974, Heft 9 und NZZ, 209, 7.5.74 ; 479, 31.10.74 (Tagungen des Konsultativkomitees).
[68] NZZ, 40, 25.1.74 ; 55, 3.2.74 ; 65, 8.2.74 ; 321, 14.7.74 ; BN, 30, 5.2.74 ; Tat, 213, 12.9.74. Vgl. SPJ, 1973, S. 66.
[69] TG, 93, 23.4.74 ; BB1, 1974, II, Nr. 33, S. 360 f. ; 1975, I, Nr. 6, S. 558.
[70] BBl, 1974, II, Nr. 33, S. 362 ff., 415 ff. ; Amtl. Bull. NR, 1974, S. 1217 ; Amtl. Bull. StR, 1974, S. 502 ff. ; NZZ, 182, 21.4.74 ; 276, 18.6.74.
[71] BBl, 1974, II, Nr. 33, S. 356 f., 413 f. (Erklärung) ; NZZ, 247-251, 30.5—2.6.74.
[72] Vgl. ferner Empfehlungen zur schweizerischen Konjunkturpolitik (unten, Teil I, 5) sowie eine Erklärung zur Umweltschutzpolitik (unten, Teil I, 6 d).
[73] BBl, 1974, II, Nr. 33, S. 343 f. ; TG, 9, 12./13.1.74.
[74] BBl, 1974, II, Nr. 33, S. 359 ; Auskünfte der Handelsabteilung. Vgl. auch SPJ, 1973, S. 66.
[75] NZZ, 493, 16./17.11.74 ; 495, 19.11.74.
[76] BBl, 1975, I, Nr. 9, S. 770 ff. ; NZZ, 477, 29.10.74 ; 487, 9./10.11.74 ; TA, 254, 1.11.74 ; 255, 2.11.74 ; 261, 9.11.74.
[77] BBI, 1975, I, Nr. 9, S. 766 f. ; TA, 39, 16.2.74.
[78] Vat., 247, 24.10.74 ; NZZ, 478, 30.10.74 ; TA, 263, 12.11.74. Vgl. hierzu auch die Verhandlungen der EFTA-Ministertagung in Helsinki (oben, Anm. 10).
[79] NZZ, 485, 7.11.74 ; NBZ, 353, 11.11.74. Neutralitätserklärung : BBI, 1975, I, Nr. 9, S. 768 ff. Zum neutralitätspolitischen Aspekt vgl. oben, Teil I, 2.
[80] Vgl. Stellungnahmen von BR Brugger an den EFTA-Ministertagungen (oben, Anm. 10) und an der OECD-Ministertagung (NZZ, 247, 30.5.74 ; 248, 31.5.74) sowie von Botschafter Jolles (Documenta, 1974, Nr. 1, S. 13 ff. ; Nr. 5, S. 12 ff. ; Nr. 8, S. 2 ff. ; NZZ, 60, 6.2.74).
[81] Vgl. insbesondere die Artikel 20, 52, 61 und 62 des Übereinkommens (BBI, 1975, I, Nr. 9, S. 792 ff.).
[82] Vgl. Postulat Fischer (fdp, BE) (Amtl. Bull. NR, 1974, S. 579 ff.).
[83] Vgl., insbesondere zu Finanzhilfen, auch oben (aide au développement).
[84] BBI, 1974, II, Nr. 33, S. 365 f. (UNO) ; NZZ, 386, 21.8.74 und 434, 19.9.74 (UNCTAD) ; 393, 26.8.74 (Vorbehalte).
[85] BBI, 1975, I, Nr. 6, S. 562 f. ; NZZ, 221, 14.5.74.
[86] NZZ, 235, 23.5.74 ; 263, 10.6.74 ; vgl. auch SPJ, 1970, S. 79.
[87] AS, 1974, S. 632 ff. ; vgl. auch SPJ, 1970, S. 79 ; 1971, S. 81 ; 1972, S. 72 ; ferner : NZ, 42, 7.2.74 ; 206, 5.7.74 ; Bund, 63, 173.74 ; NBZ, 105, 3.4.74.
[88] Schweiz. Bankverein, Der Monat, 1974, Nr. 8/9.
[89] BBI, 1974, II, Nr. 33, S. 368 ; NZZ, 166, 9.4.74.
[90] BBI, 1974, I, Nr. 8, S. 362 ; 1975, I, Nr. 6, S. 563 f. Vgl. auch SPJ, 1973. S. 67.
[91] NZZ, 479, 31.10.74 ; 484, 6.11.74 ; 494, 18.11.74 ; 505, 30.11./1.12.74 ; Var. (sda), 259, 8.11.74. Vgl. zum internationalen Weizenabkommen : oben (aide au développement).
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