Année politique Suisse 1974 : Allgemeine Chronik / Öffentliche Finanzen
Situation der öffentlichen Finanzen
Die Situation der öffentlichen Finanzen präsentierte sich 1974 als äusserst prekär. Die seit 1971 fortschreitende Verschlechterung erreichte 1974 vielfach derart bedenkliche Ausmasse, dass sich angesichts der allgemeinen Abflachung des Wirtschaftswachstums eine grundsätzliche Neuorientierung in der Finanzpolitik der öffentlichen Hand aufdrängte. Neben Regierung und Verwaltung, welche eindringlich auf die ernste Lage hinwiesen, richtete auch die OECD in ihrem jährlichen der Schweiz gewidmeten Bericht die Empfehlung an unser Land, die Finanzpolitik sei besser auf die konjunkturellen Gegebenheiten abzustimmen
[1].
Die allgemein ungünstige Entwicklung der öffentlichen Finanzen trat bei den
Kantonen oft nur versteckt oder andeutungsweise in Erscheinung, was mit unterschiedlichen Methoden der Rechnungsführung zusammenhing. Obwohl die meisten kantonalen Staatsrechnungen für das Jahr 1973 defizitär abschlossen, fielen sie doch dank höheren Steuereinnahmen durchwegs besser als budgetiert aus. Während einerseits die Kantone Bern, St. Gallen, Waadt, Wallis und Neuenburg Einnahmenüberschüsse vorweisen konnten, hatten anderseits Zürich, Baselstadt, Tessin, Baselland und Luzern auffallend grosse Fehlbeträge zu verzeichnen. Das ausgewiesene Gesamtdefizit der Kantone belief sich schliesslich auf 507 Mio Fr. (Vorjahr : 952 Mio Fr.), was einer beachtlichen Verbesserung gegenüber 1972 gleichkam
[2]. Wie bereits im Vorjahr bekannten sich die Kantone auch 1974 in einer mit dem Bund abgeschlossenen Budgetvereinbarung zu einer am Bruttosozialprodukt orientierten Begrenzung des Ausgabenwachstums
[3]. Dies wirkte sich auf die kantonalen Voranschläge für das Jahr 1975 aus, welche mit Fehlbeträgen von insgesamt 958 Mio Fr. deutlich unter dem Stand von 1974 (1050 Mio Fr.) blieben. Mit Ausnahme des Aargaus gelang es jedoch keinem einzigen Kanton, ein Budget ohne Defizit vorzulegen. Die Voranschläge der Gemeinden für das Jahr 1975 bewegen sich daneben mit Ausgabenüberschüssen von insgesamt 800 Mio Fr. praktisch genau auf dem Niveau des Vorjahres
[4].
Beim
Bund äusserte sich dagegen die kritische finanzielle Situation viel drastischer. So schloss die Staatsrechnung der Eidgenossenschaft für das Jahr 1973 in der Finanzrechnung mit einem Defizit von 779 Mio Fr. ab. Die Gesamtrechnung wies daneben einen bescheidenen Reinertrag von 127 Mio Fr. auf
[5]. Diese unerfreulichen Ergebnisse der Staatsrechnung sowie äusserst düstere finanzielle Zukunftsaussichten bewogen den Bundesrat, in einer Botschaft unverzüglich Massnahmen zur Wiederherstellung des Gleichgewichts im Bundeshaushalt anzukündigen
[6]. Im Hinblick auf die in Aussicht gestellte Finanzsanierung, über die im folgenden ausführlicher berichtet wird, genehmigten beide Räte die Staatsrechnung für das Jahr 1973 oppositionslos
[7]. Noch ungünstiger fiel der Rechnungsabschluss der Eidgenossenschaft für das Jahr 1974 aus. Anstelle des budgetierten Ausgabenüberschusses von 206 Mio Fr. ergab sich in der Finanzrechnung ein bisher nie erreichtes Defizit von insgesamt 1040 Mio Fr., was selbst die situationsbedingt schlechten Ergebnisse der Kriegsjahre in den Schatten stellte. Die Gesamtrechnung schloss mit einem Reinertrag von 63 Mio Fr. knapp positiv ab. Dies war jedoch nur möglich, weil der Grundbeitrag an die IV durch Entnahme aus der Rückstellung für die AHV gedeckt werden konnte. Der Grund für den bedenklichen Abschluss lag in der Tatsache, dass die Einnahmen um 5,1 % hinter den Budgetzahlen zurückblieben, während die Ausgaben die veranschlagten Werte um 1,5 % übertrafen
[8]. Daneben wirkte sich aus, dass das Parlament die mit dem Voranschlag bewilligten Zahlungskredite auf dem Nachtragswege um insgesamt 4,7 % zu erweitern hatte
[9].
Angesichts der äusserst bedenklichen Lage im Bereiche der öffentlichen Finanzen stellte sich die Frage nach einer Bewältigung der finanziellen Krisensituation mit aller Deutlichkeit. Dabei war man sich weitgehend einig, dass es einerseits galt, die Ausgabenentwicklung zu bremsen, während anderseits neue Einnahmequellen erschlossen werden mussten. In diesem Sinne legte der Bundesrat den eidgenössischen Räten im April ein Massnahmenpaket zur Wiederherstellung des Gleichgewichtes im Bundeshaushalt vor. Zur Drosselung der Ausgaben schlug die Landesregierung dem Parlament zunächst einen Investitionsplan für die nächsten fünf Jahre vor, wobei eine Limitierung der Personalvermehrung bei der Bundesverwaltung sowie eine Begrenzung der Bauvorhaben des Bundes im Vordergrund standen. Daneben sahen die Massnahmen zur Ausgabenbegrenzung vor, dass keine neuen Bundesausgaben beschlossen werden dürften, ohne dass vorgängig die entsprechende Finanzierung sichergestellt sei. Um dem Fiskus Mehreinnahmen zu verschaffen, beantragte der Bundesrat sodann eine Änderung der Bundesfinanzordnung : Durch eine Erhöhung der Warenumsatzsteuersätze von 4,4 auf 6 % bei den Detaillisten und von 6,6 auf 9 % bei den Grossisten sollten vor allem Zollausfälle (EWG) kompensiert werden. Bei der Wehrsteuer wollte der Bundesrat künftig auf die Ausmerzung der kalten Progression verzichten. Gleichzeitig beantragte die Landesregierung eine Erhöhung des Wehrsteuermaximums auf 12 % bei den natürlichen und auf 9 % bei den juristischen Personen
[10]. Mit höheren Eingängen aus der direkten Bundessteuer war freilich nicht vor 1976 zu rechnen. Von einer weiteren fiskalischen Massnahme, einer Heraufsetzung der Zölle auf Treibstoffen und Heizöl, wird in anderem Zusammenhang die Rede sein.
[1] Vgl. Referate von BR Chevallaz im Rahmen der schweizerisch-österreichischen Wirtschaftsgespräche (NZZ, 92, 25.2.74) und von Bundeskanzler Huber vor dem Schweiz. Aufklärungsdienst (Documenta, 1974, Nr. 6, S. 8 ff.). Die Experten der OECD plädierten vor allem für eine Revision des Steuersystems, vgl. OCDE, Suisse, Paris 1974 (Etudes économiques de l'OCDE), S. 53 ff. Vgl. ferner H. G. Giger, « Zur staatlichen Ausgabenpolitik », in Wirtschaftspolitische Mitteilungen, 30/1974, Heft 10 und J. Weilenmann, Der Einfluss des Bundeshaushalts auf den schweizerischen Konjunkturverlauf, Bern/Frankfurt a.M. 1974.
[2] Die Volkswirtschaft, 47/1974, S. 776 ff. ; wf, Dokumentations- und Pressedienst, 6, 10.2.75 sowie gemäss Angaben der Eidg. Finanzverwaltung. Vgl. auch SPJ, 1973, S. 69. Die in den bisherigen Bänden der SPJ publizierten Zahlen entsprechen den Angaben der einzelnen Kantone, während wir für 1974 auf eine durch die Eidg. Finanzverwaltung aufbereitete Gesamtrechnung abstellen.
[3] NZZ (sda), 340, 25.7.74 ; TG, 171, 25.7.74 ; VO, 169, 25.7.74. Vgl. auch SPJ, 1973, S. 69. Die Vereinbarung lehnte sich weitgehend an die Budgetrichtlinien von 1973 an, berücksichtigte aber die veränderten konjunkturellen Aussichten.
[4] Gemäss Angaben der Eidg. Finanzverwaltung.
[5] Botschaft des Bundesrates... zur Staatsrechnung... für das Jahr 1973. Vgl. auch SPJ, 1973, S. 69 f.
[6] BBI, 1974, I, Nr. 21, S. 1309 ff. Vgl. auch unten, Bundesfinanzordnung.
[7] Amtl. Bull. NR, 1974, S. 742 ff. ; Amtl. Bull. StR, 1974, S. 282 ff., 301 ff. Ein Votum Oehen (na, BE), der im NR namens der republikanischen und nationalen Fraktion für Stimmenthaltung eintrat, blieb ohne Echo.
[8] NZZ, 58, 11.3.75 ; 59, 12.3.75 ; NZ, 79, 11.3.75.
[9] Amtl. Bull. NR, 1974, S. 860 ff., 1803 ff. ; Amtl. Bull. StR, 1974, S. 144 ff., 311 und 578 f. ; BBI, 1974, II, Nr. 27, S. 177 f. ; Nr. 51, S. 1529.
[10] BBl, 1974, I, Nr. 21, S. 1309 ff. ; NZZ, 158, 4.4.74 ; BN, 80, 4.4.74 ; VO, 80, 5.4.74.
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